Wie eine Cappuccino-trinkende, mit guten Ohren und genauem Blick gesegnete Großstadt-Flaneurin uns viel über das Leben erzählt

„Ich reise ohne Koffer, jedoch mit offenen Augen für den Alltag, der so oft übersehen und von der Sensation, die vor allem in Berlin hinter jeder Ecke lauert, übertüncht wird. – Ich werde häufig gefragt, ob all das, was ich aufschreibe, ‚wirklich so passiert‘ sei. […] Was ich verraten kann, ist, dass all das, was in diesem Buch steht, wirklich so geschehen kann, wenn man wach für seine Mitmenschen bleibt. Für mich liegt die Magie tatsächlich im Unaufgeregten […].“

Viele von uns sind mit der Sesamstraßenlied aufgewachsen, mit dem Glücksversprechen: „Tausend tolle Sachen, die gibt es überall zu sehen.“ Wer sich diesen Gedanken bewahrt, der hat meiner Meinung nach vieles richtig gemacht: Eine Blume, die sich unaufhaltsam zwischen zwei Pflastersteinen hindurchgeschoben hat, der Fleck an einer Hausfassade, der uns zuzulächeln scheint, ein skurriles Ausstellungstück im Trödelladenfenster – braucht es mehr, um die Stimmung zu heben und dem Gedankenkarussell eine vergnügte Extrarunde zu spendieren?

Die Autorin und Kolumnistin Linda Rachel Sabiers schaut auch ganz genau hin, wenn auch eher beim lebenden Objekt, und findet für ihre Faszination in der Einleitung zu ihren „Beobachtungen vom Nebentisch“ eine schöne Erklärung: So verloren wir uns beim Gedanken an die Unendlichkeit des Weltraums fühlen können oder bei dem Versuch, uns vorzustellen, wie tief sie nun wirklich ist, die Tiefsee, so sehr kann es uns im Hier und Jetzt verorten (vielleicht wäre das bessere Wort: umarmen), wenn wir den Menschen um uns herum unaufdringliche Aufmerksamkeit schenken; wenn wir sie nicht als Konkurrenz um einen Platz im Bus betrachten, als zu langsam gehendes Hindernis auf dem Weg von A nach B oder als akustische oder olfaktorische Belästigung, sondern sie – und ihr zufälliges Auftauchen in unserem Tanzbereich – wertschätzen.

Sabiers sitzt in Cafés und auf Parkbänken, sie findet am graukalten Bahnhof die eine Ecke, in die ein bisschen Frühlingssonne scheint, sie telefoniert mit ihrer Großmutter oder flaniert durch Berlin. Mal wird sie so Zeugin des Gesprächs eines alten Ehepaars, mal von einem Kind angegrinst; sie lernt einen Cafébesitzer kennen, sieht die Aufschrift auf der Schleife eines Trauergestecks, tippt schnell in ihr Handy, wenn sie auf dem Markt Zeugin wird eines kurzen, für manche vielleicht belanglosen Gesprächs. Und so entdeckt sie das Große im Kleinen, das Bedeutsame, das ohne zur Schau gestellte Schlauheit glänzt. (Ich bin versucht, nun hier sofort Mascha Kaléko zu droppen als schlaue Hinseherin und Zuhörerin und Versteherin, und ihr „Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben, / Weil er sich selber liebt – den Nächsten lieben. / Ich freue mich, dass ich mich an das Schöne / Und an das Wunder niemals ganz gewöhne.“ aus SOZUSAGEN GRUNDLOS VERGNÜGT.)

Zugegeben: Viele der Beobachtungen, die Sabiers in KLEINE MOMENTE IN DER GROSSEN STADT gesammelt hat, könnten im Verdacht stehen, inszenierte Kalenderweisheiten zu sein – aber wer mich kennt, der weiß, dass ich ein großer Fan derselben bin. Natürlich gibt es diejenigen, die in Anbetracht solcher „Allgemeinplätze“ sofort den Kampfbegriff „Banal!“ zücken wollen … aber vielleicht haben die nur Angst vor der Erkenntnis, dass wir trotz all unserer Individualität und Bildung, trotz der Komplexität unserer Charaktere und der allgemeinen Auf-der-richtigen-Seite-aller-Dinge-Steherei am Ende doch nicht umhin können, zuzugeben, dass auf Regen Sonnenschein folgt.

Wenn Herr P., der alte Schreiner aus Köln, auf die Frage nach seinem Befinden antwortet „Ach wissen Se, wenn man dat Schlechte weglässt, jeht et mir eijentlisch janz joot.“, dann kann man das naiv finden – aber darf darin auch eine der besten Lebensphilosophien erkennen, die es gibt.

Die von Linda Rachel Sabiers auf gerade mal 207 Seiten gesammelten Alltagsbeobachtungen – oder, wenn wir der Relativierung der Autorin im Vorwort folgen, vom Alltag inspirierten Miniatur-Kunstmärchen – öffnen uns darüber hinaus die Augen für Zwischenmenschliches aller Art. KLEINE MOMENTE IN DER GROSSEN STADT fängt sie ein, die leise Intimität, die spontane Begegnungen im öffentlichen Raum haben können, diese Wärme, die uns findet wie ein überraschender Sonnenstrahl im Wintergrau. So ist ein Buch entstanden, dass man als Seelenstreichler bezeichnet kann, auch, weil Sabiers uns bis auf wenige Ausnahmen vor den Härten des Lebens bewahrt. Und wenn dann doch die Geruchswolke eines Obdachlosen erwähnt wird oder wir die Dummheit von zwei Teilzeit-Antisemiten aushalten müssen? Runden die das erfreuliche Gesamtbild mit genau dem Maß an Realität ab, das man auf dem heimischen Sofa an sich heranlassen möchte.

Ist jeder der kurzen Texte ein Hauptgewinn? Nö. Muss auch nicht (auch wenn ich tatsächlich nur einen wirklich misslungen fand). Schließlich ist unser Alltag nicht nur Kaffeehaussitzerei, natürlich sind unsere Begegnungen mit Unbekannten oft kein Quell der pointierten Oneliner. Aber genau wie die ZEIT-Rubrik „Was mein Leben reicher macht“ kann auch dieses auf schlaue Art kuschelweiche Buch uns Orientierung, Hoffnung und ein Lächeln schenken. Und dafür, mit zugegebenermaßen etwas Rührung im Gemüt: APPLAUS!

Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Linda Rachel Sabiers: KLEINE MOMENTE IN DER GROSSEN STADT – Beobachten vom Nebentisch. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2024