Die gefeierte Schauspielerin Lea Ruckpaul beweist, dass sie auch auf der Bühne der Literatur zuhause ist

„Ich verschwinde in meinen eigenen Erinnerungen. Starre das Kind an, das ich war. Ich erkenne mich nicht wieder in diesem Mädchen. Ihre Worte haben keine Wurzeln, obwohl sie Muttersprache sind, ihre Gedanken und ihr Körper sind Teil einer anderen Welt. Es ist harte Arbeit, Empathie für sie zu empfinden.“

Ein altes Notizbuch. Vorne, in gedrängter Handschrift, die Erinnerungen eines Mannes, der sich in einer überlegenen Rolle wähnt und doch nichts anderes ist als ein Pädophiler; dahinter weiße Seiten, die nun – sich vom Ende nach vorne arbeitend – beschrieben werden, um eine andere Sicht zu erzählen, eine andere Wahrheit. Es wäre leicht, der Frau, die den Stift hält, eine eindeutige Rolle zuzuweisen – aber Dolores Haze lehnt diese ab: „Es gibt eine Sache, die ich nicht sein will: das Opfer eines hässlichen alten Mannes in einem Pyjama.“

LOLITA, der Mitte der 1950er Jahre veröffentlichte Roman von Vladimir Nabokov, gilt als Weltliteratur; ob er es ist, mögen andere entscheiden, ganz sicher nicht ich. Und nein, ich habe ihn nicht gelesen: Der Gedanke, eine Geschichte an mich heranzulassen, in der ein erwachsener Mann ein Kind missbraucht, kommt mir abwegig vor.

Die Schauspielerin und Autorin Lea Ruckpaul hat stärkere Nerven als ich – die braucht man sicher, um am raumgreifenden Humbert Humbert und an seiner Obsession für die „kindliche Verführerin“ vorbeizusehen, der er sich ausgeliefert fühlt, obwohl doch er es ist, der sich an ihr vergeht. In BYE BYE LOLITA gibt Ruckpaul nun Dolores Haze eine Stimme. Es ist keine Nach- oder Neuerzählung, es ist auch keine Überschreibung: Es ist ein eigenständiges Werk, das mit dem genauen Wissen um das, was von einem anderen Autor geschrieben wurde, auf Abstand dazu geht und so seine eigene Form findet.

21 Jahre sind vergangen, seit Dolores vor ihrem Stiefvater geflohen ist, zwei Jahrzehnte, in denen sie sich ein Leben aufgebaut hat, in dem (neue) Männer nicht mehr die Macht haben, die Hauptrolle zu spielen. Ihren Frieden hat Dolores trotzdem nie gefunden, und wie soll das auch gehen: „Ich weigere mich, an ein einfaches Modell von Befreiung zu glauben“, lässt Ruckpaul ihre Protagonistin sagen.

Wer ist Dolores Haze? Die Tochter einer Frau, die nach vielen Standards „schwach“ ist und deswegen zur „Täterin“ wird; einer Mutter, die nur mit Männern umgehen kann, wenn sie sich unterwirft, wenn sie gefällt und hofft, so den Schutz zu finden, den sie schmerzlich vermisst. Man will diese Charlotte Haze schütteln, natürlich. Aber so leicht macht es uns Lea Ruckpaul nicht: Sie versteht es meiner Meinung nach, uns in einer distelstechenden Balance zu halten zwischen Abscheu für Charlotte und dem Verstehen, warum sie ist, wie sie ist (auch wenn dies kein Verständnis nach sich ziehen kann).

Noch einmal: Wer ist Dolores Haze? Ein Kind, das spürt, dass die Mutter es als Rivalin sieht, sich seiner bedient als Objekt der Zuneigung und dem Gegenteil. Ein Mädchen, das früh erkennt, was ihr körperliches Wohlbefinden schenkt (auch wenn schon die erste sexuelle Erfahrung einem Albtraum gleicht), und das von seiner Mutter gelernt hat, dass es in Momenten der Not die einzige Hoffnung auf Rettung ist, einen Mann zu verführen. Ist Dolores etwas abgeklärter, als es zu ihrem Alter passt, kalkulierender, manipulierender? Manchmal ja. Aber dann ist sie doch wieder im nächsten Moment sprunghaft und unüberlegt, wie man nur sein kann, wenn man nicht begreift, was man tut.

Auch das ist Dolores Haze: Eine erwachsene Frau, inzwischen 27 Jahre alt, die in einem Büro arbeitet, die Kontrolle in ihrem Leben dadurch gefunden hat, ihren Körper durch Hunger zu misshandeln, und die sich schmerzlich bewusst ist, dass es keine Weichheit mehr in ihre Seele zu geben scheint. So beginnt sie, im Tagebuch ihres einstigen Peinigers gegen ihn anzuschreiben, später auch Worte von ihm mit einer Rasierklinge vom Papier zu kratzen. Und wir? Erleben nicht die Lolita, über die Nabokov schrieb, nicht einmal die Dolores, wie sie wirklich war – sondern ein Mädchen, wie es ihr erwachsenes Ich in Erinnerung hat … oder haben will.

BYE BYE LOLITA ist über die Schilderung des konkreten Missbrauchs hinaus ein erschütterndes Buch – auch, weil Ruckpaul zu schlau ist, um uns Lesenden einfache Antworten oder Sichtweisen zu erlauben. „Ich war es, die ihn geküsst hat“, lässt sie Dolores erkennen: „Als ich mich daran erinnere, schlagen Meereswellen über mir zusammen. Der Sauerstoff geht mir aus – egal, ich atme im Bewusstsein meines Untergangs bereitwillig Wasser und sinke sinke sinke.“

Die erwachsene Dolores, der wir auf 307 Seiten atemlos folgen, ist sicher keine „unzuverlässige Erzählerin“, wie wir sie aus Spannungsbüchern kennen, und doch sollte man sich hüten, ihr immer zu glauben. Wir erleben ihre Wut – und spüren sie selbst –, wir möchten Humbert Humbert seine Verlogenheit ins Gesicht dreschen, so wie Dolores es insbesondere im letzten Drittel tut. Wir können nachvollziehen, warum dieses Kind keine Fluchtversuche unternommen hat. Wir verstehen, warum sie nun, ein halbes Leben später, immer noch taumelt. Und doch ist da eine Distanz, die wir nicht überwinden können – weil weder Dolores, noch Lea Ruckpaul dies erlauben.

BYE BYE LOLITA hat mich gleichermaßen gefordert wie begeistert: Lea Ruckpaul schreibt so virtuos, wie sie auf der Bühne spielt. Zugegeben: Gegen Ende des Buchs kommt die druck- und rauschhafte Erzählung meiner Meinung nach hier und da etwas aus dem sicheren Tritt, wenn beispielsweise ansonsten nie erwähnte Freundinnen benutzt werden, um auf die Allgegenwärtigkeit von Gewalt gegen Frauen hinzuweisen, oder die Art des Erzählens zwar sehr in die heutige Zeit passt, mir für eine Geschichte, die eigentlich in den 1970ern angesiedelt ist, aber  zu aufgeklärt wirkt. Fällt das ins Gewicht? Nö. Denn im nächsten Moment rührt Ruckpaul mich Leser von geringem Verstand nachwirkend, wenn die erwachsene Dolores doch wieder ganz Kind ist und sich ein Familienalbum malt, das es in dieser Form nie gegeben hat. Und noch ganz unerwähnt geblieben ist hier bisher Mona, Dolores‘ Freundin: Über die würde ich sofort einen eigenen Roman lesen wollen!

„Diesmal geschrieben von Lolita, ihr Arschlöcher“, steht auf dem Aufkleber, der auf dem Einband des Romans seine Rolle als „Störer“ ernst nimmt. BYE BYE LOLITA ist ein Schlag in Gesicht und Magengrube – und doch kann ich nun, einige Tage nach dem Lesen des letzten Satzes, nur mit einem Gefühl an dieses Buch denken, das ich in Ermangelung besserer Worte als „raue Zärtlichkeit“ beschreiben möchte.

Hat Lea Ruckpaul Weltliteratur geschrieben, so wie es Nabokov vielleicht tat? Das mögen einmal mehr andere entscheiden. Ich denke, BYE BYE LOLITA braucht diesen Donnerhall gar nicht, und habe nur ein Wort für euch: „LESEN!“

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Ich habe dieses Buch vom Verlag als Rezensionsexemplar bekommen; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Lea Ruckpaul: BYE BYE LOLITA. Voland & Qvist, 2024