Ein kurzes Interview mit Linda Rachel Sabiers zu ihrem Buch KLEINE MOMENTE IN DER GROSSEN STADT.
Kennt ihr das – ihr denkt an ein Buch und habt ein Lied dazu im Kopf? Im Fall von KLEINE MOMENTE IN DER GROSSEN STADT Linda Rachel Sabiers sind es sogar drei: Zum einen höre ich das „De-de-deh-de, de-de-deh-de“, mit dem TOM’S DINER von Suzanne Vega beginnt, in das sich der Sesamstraßen-Song mischt (denn: „Tausend tolle Sachen, die gibt es überall zu seh’n“) – und ja, dann meldet sich auch Katja Ebstein zu Wort, deren „Wunder gibt es immer wieder“ für manche vielleicht Schlagerkitsch ist, mir aber immer wieder einfällt, wenn ich über etwas staune.
In KLEINE MOMENTE IN DER GROSSEN STADT sammelt Linda ihre Beobachtungen und Begegnungen: Sie hört zu, wenn Menschen sich am Nebentisch unterhalten, sie schaut genau hin, während sie auf den Straßen von Berlin und Köln unterwegs ist, sie telefoniert mit ihrer Großmutter. Ich habe es als großes Vergnügen empfunden, ihre Texte – ihre durchaus literarischen Miniaturen – zu lesen … und hatte, nachdem ich das Buch sehr befriedigt zugeklappt habe, noch ein paar Frage. Die durfte ich an die wunderbare Autorin stellen.
Liebe Linda, für Dein Buch KLEINE MOMENTE IN DER GROSSEN STADT hast Du Menschen vom Nebentisch aus beobachtet. Wie vermeidest Du es, dabei zu tief in die Privatsphäre anderer einzudringen?
Linda Rachel Sabiers: „Ehrlich gesagt kann ich ein Eindringen in die Privatsphäre meiner Mitmenschen nicht verhindern. Denn ich lausche ja den Gesprächen am Nachbartisch. Aber, und hier wäre ein beinahe philosophischer Ansatz möglich: Was war zuerst da – das Zuhören oder das deutlich hörbare Gespräch?
Wer mich kennt, weiß, dass ich viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht habe. Während der Mahlzeiten mochte mein Großvater es am liebsten still, da er streng preußisch sozialisiert war. Da meine Großmutter und ich den Mund nicht halten konnten – und vor allem ich ihm ständig Fragen stellte –, antwortete er oft mit einem Satz, der im Verlauf seiner Demenz einer der letzten kohärenten Gedanken werden würde: ‚Das ist doch deren/deine/meine Privatangelegenheit.‘ Ich konnte und kann mit dieser Aussage nicht viel anfangen, da ich kein sonderlich privater Mensch bin. Ich rede auch nicht bewusst leise, wenn ich mich im Café unterhalte, und das ist bei den Menschen, die unabsichtlich ihre Geschichten mit mir teilen, ähnlich. Wir können uns vermutlich gar nicht vorstellen, was interessant an uns sein soll …
Was jedoch die Privatsphäre der Belauschten wahrt, ist, dass ich keine Namen oder eindeutigen Beschreibungen veröffentliche. In Berlin oder Köln, wo sich ein Großteil meiner im Buch erschienenen Beobachtungen zugetragen haben, gibt es unzählige ältere Damen, Caféinhaber*innen und Kinder, auf die meine oberflächlichen Beschreibungen zutreffen. Und was mir wichtig ist: Ich urteile nicht, ich bin stille Zuhörerin und Beobachterin, und es liegt mir fern, einer Alltagsszene meinen persönlichen Stempel aufzudrücken.“
Für Dein Buch entdeckst Du das Große im Kleinen, die Bedeutung im gedankenlos Dahingesagten. Was hilft uns Deiner Meinung nach aber wirklich weiter im Leben: Die Gedanken und Theorien angesehener Geistesgrößen – oder das flüchtige Gespräch auf der Straße zwischen Bekannten und Unbekannten?
Linda Rachel Sabiers: „Montaigne, die Epikureer und Winston Churchill haben sicherlich auch nur mit Wasser gekocht.
Ich habe natürlich Respekt davor, wenn man seinen Lebensinhalt der Wissenschaft und der Akademie verschreibt. Ich könnte das nicht. Daher habe ich (wahrscheinlich) auch kein Hochschulstudium abgeschlossen. Die Weisheiten meiner Großeltern, einer mir fremden Frau im Supermarkt oder eines Kindes, das mir auf dem Spielplatz begegnet, haben mich in den letzten Jahren wesentlich mehr geprägt als Montaigne, der einst (wohl) sagte, dass das Leben ein Handel sei, das auf Gegenseitigkeit beruht. Er mag damit natürlich recht haben, Erkenntnisse dieser Art kann man mit ein bisschen Glück jedoch auch an der Kasse bei Netto aufschnappen.
Mein Interesse am Alltag, an Sorgen und Gedanken, die manche Menschen vielleicht profan finden, ist keine Koketterie, mit der ich versuche, gut lesbare Bücher zu verkaufen. Das wäre ein vor allem wirtschaftlich, aber auch zeitökonomisch idiotischer Plan. Was mir wichtig ist: Als Mensch, Frau und Mutter kann ich mit vierzig Jahren sagen, dass mir das Leben auf der Straße mehr für mein eigenes Vorankommen gegeben hat, als weise Sprüche aus klugen Büchern.“
Angenommen, Du würdest selbst vom Nebentisch aus beobachtet für ein Buchprojekt – in welcher Situation wärst Du dann gerne, was würdest Du sagen oder tun?
Linda Rachel Sabiers: „Ich würde gerne beim genussvollen Essen eines Tellers mit dampfender Pasta beobachtet werden. Während meiner langen Beobachtungsreise fiel und fällt mir immer noch auf, dass Frauen selten ungehemmt (viel) in der Öffentlichkeit essen. Damit meine ich nicht die respektlose Klischeevorstellung einer mehrgewichtigen Person im Fast Food-Lokal, sondern ein einfaches Café oder Restaurant. Ich persönlich beobachte gerne essende Menschen. Sie reden zwar wenig, haben jedoch eine tolle Mimik und Körpersprache.
Idealerweise würde ich dann, im Moment der Beobachtung, einer fremden Person ein Kompliment machen. Wir machen einander zu selten Komplimente – ich erinnere mich gerne selbst daran, dies öfter zu tun, und bin immer wieder gerührt, wie ehrlich erfreut mein Gegenüber ist. Es reicht bereits, einer Frau im Sommer zu sagen, wie schön ihr Kleid ist. Oder einem Zugbegleiter in der Deutschen Bahn, dass man sich über die schönen Ansagen freut. Wir sind alle so sehr mit uns und den konstant auf uns niederprasselnden schlechten Nachrichten beschäftigt, dass wir den Sinn für das Schöne an- und miteinander verlieren. Das ist schade. Dagegen möchte ich etwas tun – und vielleicht sollten wir das alle.“
***
Hier geht es zur Rezension
***
Ich habe KLEINE MOMENTE IN DER GROSSEN STADT von Linda Rachel Sabiers von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet. Bei diesem Interview handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern ist einfach meiner Neugier geschuldet.
Linda Rachel Sabiers: KLEINE MOMENTE IN DER GROSSEN STADT – BEOBACHTET VOM NEBENTISCH. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2024.
Schreibe einen Kommentar