Anne Tyler hätte einen großen Roman schreiben können, wollte es aber wohl nicht

„Wut ist ein viel angenehmeres Gefühl als Traurigkeit. Reiner irgendwie, und konkreter. Doch wenn die Wut verraucht, ist die Traurigkeit so schnell wieder da, als wäre sie nie weg gewesen.“

Ein hinreißender Umschlag, ein Thema, das für Dramatik und/oder Situationskomik sorgen könnte, und ein höchst gelungener Einstieg, der mich auf allerbeste Weise an Elizabeth Strout und Olive Kitteridge erinnerte: Ich habe mich sehr auf DREI TAGE IM JUNI gefreut … und bin nach Lektüre der schmalen 205 Seiten umso enttäuschter. (Warnhinweis: Wenn ich nachfolgend meine Gedanken zusammenfasse, lassen sich Spoiler nicht vermeiden.)

Gail, die wenig verbindliche, auf schönste Art zur Kratzbürstigkeit neigende Hauptfigur, muss in direkter Reihenfolge „Tschüss“ zu ihrem Job und „Hallo“ zu ihrem Exmann sagen, der sich für drei Tage bei ihr einquartiert, weil ihre gemeinsame Tochter heiratet – und er neben wenig passender Garderobe eine Katze mitgebracht hat, auf die der zukünftige Schwiegersohn allergisch ist. Besagter Schwiegersohn scheint aber noch eine andere Problemstellung zu haben, denn auf einmal behauptet seine Schwester, er habe die Braut vor nicht allzu langer Zeit betrogen. Dies lässt Gail daran zweifeln, dass er wirklich der Richtige für ihre Tochter ist – und erinnert sie an das Ende ihrer eigenen Ehe …

Ein Ex-Paar, das wider Willen unter einem Dach leben muss, eine Hochzeit, die schon vor dem Probedurchlauf in der Kirche unter keinem guten Stern zu stehen scheint, und all das potenzielle Hurlyburly, für das viele Familienzusammenkünfte sorgen – daraus hätte man so viel machen können! Anne Tyler, laut BBC „die beste Autorin der Welt“, hat sich aus unerfindlichen Gründen dagegen entschieden: DREI TAGE IM JUNI ist so handlungsarm und entsprechend spannungsbefreit, dass selbst Hintergrundmusikbeschallung in einem Kaufhaus dagegen wie ein Punk-Konzert anmutet.

Von der Sekunde an, als Gail sagt, dass sie auf keinen Fall wieder eine Katze im Haus haben möchte, ist vollkommen klar, dass diese es nie wieder verlassen wird – aber während die Annäherung von Frau und Samtpfote nachvollziehbar ist, hat sich mir bis zum Ende nicht erschlossen, warum Gail den sympathischen, aber konturlosen Max zurück nehmen wollen sollte. Liebe, ja, hat im wahren Leben oft auch etwas mit Pragmatismus zu tun. Aber in einem Roman erwarte ich dann doch ein bisschen mehr Feuerwerk.

Natürlich kann ich verstehen, warum sich viele Lesende mit einem wohligen Seufzen in das seichte Wasser dieses Schaumbads gleiten lassen: DREI TAGE IM JUNI ist mit seiner „Alles nicht so schlimm“-Gesamtaussage und der mangelnden dramaturgischen Aufregung idealer Seelenzucker in Zeiten, in denen es die Weltlage oft schwer macht, vor dem Schlafengehen zur Ruhe zu finden. Tyler umschifft sämtliche Stromschnellen, Probleme werden nur erwähnt, um sofort aus dem Weg geräumt – oder vergessen – zu werden, und fast könnte man meinen, die Autorin (Jahrgang 1941) habe ihr Pulver bereits dadurch verschossen, dass es hier eben nicht der Mann ist, der fremdging, sondern es Gail war, die ihrem Max untreu wurde. Beziehungsweise: sich selbst.

Vielleicht ist es die Lässigkeit des Alters, dass Tyler sich nicht damit aufhält, die Beziehung zwischen Gail und ihrer Tochter über ein „Es ist kompliziert“ hinaus zu entwickeln? Und dass Gails Mutter zwar vorkommt, aber letztendlich keine Rolle spielt, irritiert zwar, fällt aber auch nicht weiter ins Gewicht. Wie man aber ein Hochzeitsessen, vor dem diverse Zeichen auf Sturm stehen, so belanglos abspulen kann, erklärt sich mir ebenso wenig wie die allgemeine Wurschtigkeit, mit der sich die Figuren gegenübereinander verhalten – wenn Gail beispielsweise grußlos von der Hochzeit ihrer Tochter verschwindet, weil es ihr zu komplex erscheint, noch einmal mit dem Aufzug zur Party-Location zurückzufahren.

Dass sich das Buch – bei aller inhaltlichen Langeweile, die ich empfunden habe – flüssig lesen lässt, liegt sicher auch an der Übersetzung von Michaela Grabinger, die einen sehr guten Eindruck macht. Umso mehr stolpere ich (in Unkenntnis des Originals) darüber, dass das Wort „heiß“ in irgendeiner exotischen europäischen Sprache einen unmoralischen Zusammenhang mit dem männlichen Genital haben soll – verstehe ich den Witz nicht, stolpert da die Übersetzung, oder hat das amerikanische Lektorat sich so durch die dahindümpelnde Geschichte einlullen lassen, dass kein Fragezeichen für die Autorin gesetzt wurde?

Für mich als Leser von geringem Verstand war DREI TAGE IM JUNI leider kein Gewinn, und vermutlich werde ich die Geschichte innerhalb kürzester Zeit vergessen haben, aber – und das schreibe ich nun nicht nur, um meinen Gesamteindruck abzurunden – es gibt Sätze und Momente, die durchaus erinnerungswürdig sind; neben dem einleitenden Zitat wäre das beispielsweise die beste Überleitung von leicht verschämtem Umsehen in einer fremden Wohnung zum nachfolgenden erquicklichen Geschlechtsverkehr: Wer hätte gedacht, dass Bügeln ein wahres Aphrodisiakum sein kann?

***

Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Anne Tyler: DREI TAGE IM JUNI. Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. Kein & Aber Verlag, 2024