Ich kann mich dem Autor nicht immer anschließen, aber das hat auch seinen Reiz
„So versuchen die einen, populäre Formate wie Schlager und Winnetou zu autonomen Kunstwerken aufzuwerten, die gegen eine wild gewordene ‚Cancel Culture‘ verteidigt werden müssen, während die anderen die elitäre Ästhetik des Kunstparadigmas zu einem Instrument effektiver politischer Intervention adeln wollen. In beiden Fällen wird das Prestige des Ästhetischen missbraucht, um eine heroische Selbsterzählung zu konstruieren.“
Gutes Buch, viel gelernt, gefühlt jede vierte Seite mit einem Eselsohr markiert, um eine Stelle zu markieren, die unbedingt in die Rezension einfließen muss. Hurra-hurra auf ganzer Linie, um es in zwei Sätze zu packen! Ich hätte aber auch noch ein paar mehr im Angebot.
Disclaimer: Ich bin kein Sachbuchleser; mehr Expertise habe ich, wenn es darum geht, angeglimmert auf einer Party in der Küche herumzulungern und mit Menschen zu plaudern – aber anders als in der von Johannes Franzen an den Anfang des ersten Kapitels gestellten Szene kommt es dabei (zumindest in meiner Wahrnehmung) nicht zu schwerwiegenden Kränkungen, wenn konträre Meinungen zu einem Buch, zu einer Serie, einem Film oder Musik im Raum stehen. Nehme ich solche Geschmacksunterschiede vielleicht nicht ernst genug?
Sehr ernst will WUT UND WERTUNG das Streiten über Geschmack nehmen – direkt die Headline des Rückseitentexts definiert die Tonlage: „Warum hassen oder lieben wir Kunst“, steht dort, und an diesen Extremen wird auf den 400 Seiten (plus Anhang) nicht gespart: Es wird dominiert und unterdrückt, es soll erzogen und in Grenzen verwiesen werden, und hätte das Wort „Ekel“ einen eigenen Eintrag im Register des gut recherchierten Buchs, es gäbe vermutlich genauso viele Seitennennungen wie bei den Spitzenreitern „Effi Briest“, „Frankfurter Allgemeine“ und „New York Times“. Nun habe ich Verständnis dafür, dass für viele Menschen die Auseinandersetzung zu ihren Herzensthemen einem Stellungskrieg nahe kommt, aber … ich habe Franzens Wortwahl oft als kultiviert krawallig empfunden.
Johannes Franzen hat es nicht nötig, mich Leser von geringem Verstand so anzusuperlativieren, denn was er berichtet und analysiert, ist durchgehend interessant – und die Details der Auseinandersetzung zwischen dem namensverwandten US-Autor Jonathan Franzen und Oprah Winfrey muss ich mir wirklich merken, ist dies doch ein Paradebeispiel für das, was ich Kulturschnöseligkeit nenne.
Obwohl Franzen mir also in vielen Punkten das Horn bereithält, mit dem ich gerne tröte – denn mancher Feuilletonist kann mir durch seine Versuche, eine Deutungshoheit zu gewinnen oder zu verteidigen, gehörig auf die Nerven gehen –, fremdle ich, wenn er es sich beim Kultureliten-Bashing etwas einfach macht:
Ich empfinde es beispielsweise nicht als Akt der Domestizierung und Unterwerfung, dass ich im Bayerischen Nationaltheater während der Aufführung weder Nachos essen darf noch mich über die Darbietungen unterhalten sollte, sondern als Akt der Höflichkeit und der Rücksichtnahme gegenüber den Menschen um mich herum; es ist meiner Meinung nach auch kein Akt von Teilhabe und anti-elitärer Grundentspannung, im Kino mit einer XXL-Tüte Popcorn zu lärmen und „dem Schatzi“ zu erklären, worum es da vorne auf der Leinwand geht, weil „der Bobo“ so ein krasser Checker ist …
Natürlich kann man festhalten, dass das noch nicht von den Kultureliten zurückgedrängte „Proletariat“ in merry old england saufen und raufen durfte während einer Shakespeare-Aufführung – aber wollen wir die Rezeption einer Kunstdarbietung zur Freiheit verklären, die aus einer Zeit stammt, in der es keine funktionierende Kanalisation gab?
Natürlich verstehe ich Franzens Punkt, dass manche Kulturtreibende und -organisierende und -besprechende sich über das Publikum erheben wollen, dass sie die Abwertung der anderen forcieren zur eigenen Seligsprechung. Zu kurz springt er meiner Meinung nach aber, wenn er im Gegenzug eine Demokratisierung und Teilhabe darin sieht, dass Filme heute auf großen Internetplattformen sowohl von professionellen Kritikern als auch vom Publikum bewertet werden und es dann z.B. bei einem der neuen Star-Wars-Filme einen deutlichen Unterschied gab zwischen den (elitären) Kritikermeinungen und dem (volksnahen) Urteil der Zuschauenden: Das Star-Wars-Fandom ist oft genauso toxisch wie die Anhängerschaft von Computerspielen, die in einem anderen Kapitel durchaus als „dunkle Seite der Macht“ gezeigt wird. Nun kann man sagen: Franzen wertet nicht, er zeigt auf. Aber dann doch bitte nicht nur so, wie es für das jeweilige Kapitel kommod ist.
Laut Rückseitentext zeigt WUT UND WERTUNG, „warum Konflikte über diese Gefühle [die Kunst in den verschiedenen Darreichungsformen von EFFI BRIEST bis THE LAST OF US in uns auslösen] so wichtig und produktiv sind“. Man darf mich gerne einen unaufmerksamen Leser nennen, aber diesem Versprechen wird das Buch meiner Meinung nach nicht gerecht. Franzen analysiert, warum Menschen ihre Hoffnungen und Ängste, ihren Wunsch nach Erhebung durch Schönheit oder Zerstreuung durch Ablenkung auf Kunst(formen) projizieren und deswegen auch bereit sind, ihre Verletzungen in die Öffentlichkeit zu tragen; es wird dargestellt, wie absurd es ist, wenn z.B. eine Schauspielerin für die Verfehlungen der von ihr verkörperten Figur angegangen wird, und in welchem Dilemma sich Menschen befinden, die Harry Potter lieben, seine Autorin hingegen schütteln wollen.
Aber geht es denen, die gegen „Woke“ wettern und „Cancel Culture“ immer und überall wittern, wirklich darum, für ihre Ideale einzutreten – oder sind die modernen Kanäle der Meinungsäußerung vielleicht doch vor allem der einfachste Weg, um Hass zu verbreiten, der vor allem der Befriedigung aggressiver Genitalproblematiken dient und weniger der Liebeserklärung für (oder Auseinandersetzung mit) einer Kunstform?
Etwas ungeschickt empfinde ich es von Franzen, dem man mit Sicherheit nicht den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit machen muss, auch die Aussagen über eine Literaturwissenschaftlerin, die eine – aufgrund ihres Jobs – „skandalöse“ Aussage machte dazu, keine weiteren Bücher von David Foster Wallace mehr lesen zu wollen wegen dessen „monströsem“ Umgang mit Frauen; obwohl Franzen im weiteren Verlauf des Absatzes einräumt, dass Kulturkonsum immer bedeutet, die knappe Ressource Zeit sehr sorgsam einzusetzen (möglicherweise gilt das auch für eine Literaturwissenschaftlerin?), stellt er den „prüden Unwillen“ der Dame in den Raum. Ja, er wird sogleich relativiert, aber … nun … „prüder Unwille“ sollte im Zusammengang mit „monströsem männlichen Verhalten“ keinen Platz haben. Finde ich, so irgendwie grundsätzlich.
Wo verfeinerte Hochkulturmeinungen und das breite Kulturkonsumierendenempfinden aufeinanderprallen, wo die Autonomie von Kunsttreibenden und die Erwartungshaltung des Publikums aufeinandertreffen, kann es immer Spannungen geben, und in vielen sehr guten Passagen seines Buchs ermöglicht Franzen es uns Lesenden, diese zu beobachten und für uns einzuordnen. Und er schreibt uns viele Fragen ins Aufgabenbuch der persönlichen Selbstfindung:
Wenn man Frau Rowling verurteilt, darf man dann noch mit Wohlgefallen auf Picasso-Bilder schauen? Wie gehen wir mit der Evolution der Kunstauseinandersetzung um, zu der Wolfgang Ullrich wie folgt zitiert wird: „Die paradoxe Folge davon ist, dass die Idee eines Freiheitsprivilegs für Kunst, nachdem sie über mehrere Generationen hinweg gerade von aufgeklärten, emanzipatorischen und liberalen Strömungen stark gemacht worden war, nun nicht mehr von progressiven Milieus, sondern verstärkt von Rechten reklamiert wird?“ Und ist die Frau, die Till Lindemann verteidigt, schlimmer als diejenige, die sich an Dark-Romance-Toxitäten im Glitzerblink-Einband erfreut?
WUT UND WERTUNG ist in meiner Wahrnehmung – und ohne irgendeine Expertise – ein gelungenes Sachbuch, auch wenn ihm an diversen Stellen eine unaufgeregtere und barrierefreiere Wortwahl gutgetan hätte. „Warum streiten wir über Kunst“, fragt Franzen am Ende und gibt direkt die meiner Meinung nach richtige Antwort: „Weil es so viel Spaß macht.“ Dazu gehört sicher auch, manches nicht so ernst zu nehmen. Und im Kopf zu behalten, dass es bei Gesprächen über Kultur und Konsumvorlieben vieles geben darf, kann und soll … aber eben keine allgemeingültigen Wahrheiten.
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Ich habe dieses Buch auf der Frankfurter Buchmesse 2024 von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Johannes Franzen: WUT UND WERTUNG – Warum wir über Geschmack streiten. S. Fischer Verlag, 2024
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