Hier geht’s nicht um Selbstmordattentäter: Das Debüt des iranisch-amerikanischen Autors Kaveh Akbar ist ein Lesefest zwischen Grauschattierung und Farbrausch

„Ansonsten befand er sich frei schwebend in der Zeit: irgendwo zwischen Geburt und Tod, ein Intervall, in dem er nie richtig Fuß gefasst hatte. Und genau frei schwebte er in der Welt mit all ihren Auswahlkästchen – weder Iraner noch Amerikaner, weder Muslim noch Nicht-Muslim, weder alkoholabhängig noch sinnstiftend genesend, weder schwul noch hetero. Jedes Lager fand ihn zu sehr dem anderen zugehörig. Dass es überhaupt Lager gab, machte ihn fertig.“

Wir alle wollen ein gutes Leben führen – aber was bedeutet das? Für die einen ist ein Leben dann gut, wenn es von Beziehungen geprägt ist und von Liebe; andere leben, um zu helfen, zu lehren, zu bewegen. Wieder andere verbinden mit „gut“ eine materielle Ebene. Und dann gibt es auch Menschen, die einen Gedanken wie diesen haben: „Er wollte so perfekt leben, dass er sterben konnte, ohne auch nur einen Hauch von Schmerz zu erzeugen, wie ein olympischer Turmspringer, der messergleich ins Wasser eintaucht, ohne dass auch nur ein einziger Tropfen hochspritzt.“

Ob Cyrus Shams weiß, was er damit meint, wenn er diesen Wunsch formuliert? Vielleicht nicht. Schließlich ist nichts in seinem Leben perfekt – oder auch nur in Balance. Kurz nach seiner Geburt im Iran wollte seine Mutter ihren Bruder besuchen, doch das Flugzeug wurde vom amerikanischen Militär für ein Bedrohung gehalten und abgeschossen. Und doch ist Cyrus‘ Vater danach mit seinem Sohn in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gezogen, um dort auf einer Farm zu arbeiten, in der neue Formen von Hochleistungshühnern gezüchtet werden, deren einziger Lebenszweck der sehr zeitnahe Tod ist.

Wenn schon sterben, dann mit Hurra …?

Inzwischen ist Cyrus erwachsen; er hat seine Sucht nach Drogen und Alkohol unter Kontrolle, arbeitet in einem Krankenhaus, wo er als Laiendarsteller für den medizinischen Nachwuchs in die Rolle von Patient*innen schlüpft, und er würde seinen Mitbewohner Zee vermutlich „nur“ als einen seiner besten Freunde bezeichnen, obwohl ihre körperliche Nähe auch anders empfunden werden kann. Aber Cyrus treiben ganz andere Fragen um – beziehungsweise seine Faszination für Märtyrer wie Jeanne D’Arc, Malcom X, die Mathematikerin Hypatia von Alexandia oder die britische Suffragette Emily Davison. Das ist es, was er sich wünscht: Ein Leben führen, das so erfüllt ist, dass es im Moment des Todes kein Bereuen geben wird. (Allerdings dachte Cyrus auch immer, dass ein Grundkurs Französisch, den er häufig schwänzte, reichen würde, um es ihm zu ermöglichen, die ultimative Übersetzung der Gedichte von Rimbaud zu schaffen …)

Nachdem der Werbetext in der Verlagsvorschau mich neugierig gemacht hat – und der meiner Meinung nach lieblose, aussagebefreite Umschlag mich nicht abschrecken konnte –, habe ich MÄRTYRER zunächst ohne konkrete Erwartung gelesen … und war nach wenigen Seiten so gefesselt und fasziniert wie von bisher keinem Buch in diesem Frühjahr. Das ist großes Kino, vielschichtig, üppig im Ton, anspruchsvoll – und immer für eine Überraschung gut.

Kaveh Akbar erzählt nicht nur von Cyrus, sondern auch von seinem Vater, seiner Mutter Roya und seinem Onkel, dem wir wie allen Figuren auf verschiedenen Zeitebenen begegnen: Gerade ist Arash noch der fiese Bruder, der nach einem Weg sucht, seine provozierend unerschrockene Schwester in ihre Schranken zu weisen, im nächsten Moment ist er schon der Mann, der im Militärdienst – obwohl dazu bestimmt, als „Nullsoldat“ wenig mehr als Kanonenfutter zu sein – eine ebenso absurde wie wunderbare wie abscheuliche Rolle bekommt (eine nebenbei, die ich vermutlich nie vergessen werde).

Auch Roya erleben wir erst als wildes Mädchen, dann als angepasst lebende junge Mutter … und als Gesprächspartnerin von Lisa Simpson, der Zeichentrickfigur, der sie in den Träumen ihres inzwischen erwachsenen Sohns begegnet: Realität ist das, was man dazu erklärt, um darin Halt zu finden.

Literarischer Schwung und a touch of Abramović

Es ist ein großes Vergnügen zu lesen, wie Kaveh Akbar die verschiedenen Ebenen miteinander verwebt, uns mal hierhin führt und dann sofort an einen anderen Punkt in Vergangenheit oder Gegenwart reißt. Das alles hat einen Fluss und Schmelz, dem ich mich nicht entziehen konnte, auch wenn die Geschichte vor allem rau ist – und auf der Gegenwartsebene tatsächlich nur eine kurze Zeitspanne bespielt: Cyrus, der sich in die Idee verliebt hat, ein Buch über Märtyrer zu schreiben, reist mit Zee nach New York, um dort die berühmte Künstlerin Orkideh zu treffen, die unheilbar an Krebs erkrankt ist; statt auf den Schlusspunkt zu warten, will sie ein Ausrufezeichen ans Ende ihres Lebens setzen, indem sie für die letzten Wochen in ein Museum zieht und dort mit den Besuchenden über den Tod spricht.

Ich mag es, wenn Autoren keine offensichtliche Anstrengung unternehmen, um ihre Protagonisten sympathisch zu machen – oder sie so durch ein Tal der Tränen treiben, das wir gar nichts anders können, als uns mit ihnen zu solidarisieren. Kaveh Akbar verlangt nicht von uns, seine Figuren zu mögen, und doch wachsen sie uns ans Herz in ihrer Orientierungslosigkeit, ihrem Schmerz, ihrer Hoffnung auf etwas, was vielleicht das „gute“ Leben ist … aber auch etwas anderes sein könnte. Und noch dazu schenkt er uns Sätze, die nachhallen, wie diese seiner Figur Orkideh: „Ein Alphabet besteht, genau wie ein Leben, aus einer endlichen Anzahl von Formen. Man kann daraus fast alles machen.“ Hätte ich den entsprechenden Bizeps, ich würde mir das sofort tätowieren lassen.

Hat Kaveh Akbar einen perfekten Roman geschrieben? Nein. Ich habe mich weder mit den Textauszügen aus Cyrus‘ Märtyrerbuch anfreunden können noch mit einer fragwürdigen dramaturgischen Entwicklung noch mit dem vorletzten Kapitel, in dem die Farben bis ins Psychedelische hochgeschraubt werden; ich räume gerne ein, dass ich es als Leser von geringem Verstand vermutlich nicht verstanden habe. Und das letzte Kapitel? Lies mich erst ratlos zurück.

Der Vorhang zu – und alle Fragen offen? Nö!

Als ich es jetzt noch einmal gelesen habe, mit einigen Tagen Abstand nach dem wilden, atemlosen Rausch, den die 396 von Stefanie Jacobs übersetzen Seiten für mich bedeutet haben (die Lyrik übertrug Jürgen Brôcan ins Deutsche), machte es mich glücklich, und zwar sehr. Denn obwohl MÄRTYRER ein Buch bleibt, in dem der Tod allgegenwärtig ist – mitsamt dem, was wir auf dem Weg dorthin an Schmerz und Angst erleben können –, hat Kaveh Alkbar vor allem über das Leben geschrieben, in seiner Absurdität, Hoffnung und Schönheit in den Momenten, in denen wir nicht denken, sondern einfach nur sind.

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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern das Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Kahveh Akbar: MÄRYTRER. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs; die Lyrik übersetzte Jürgen Brôcan. Rowohlt Verlag, 2025