Die Geschichte, die Katharina Hagena erzählen will, ist gut – was sie daraus macht, hat mich leider nicht überzeugt
„Margit ist klar geworden, dass sie ein paar wesentliche Dinge in ihrem Leben noch nicht zu Ende erinnert, noch nicht zu Ende gefühlt hat. Und bevor sie einen Abflug macht (sie liebt diesen Ausdruck, Brisko [ihre Ex-Schwiegertochter] sagt ihn manchmal, bevor sie nach Hause geht), möchte sie die Dinge erledigen. Es eilt nicht, nichts eilt mehr, aber es ist dringend.“
Drei Hauptfiguren, deren Sollbruchstellen ihnen Schönheit geben. Ein Erzählton, der zu schweben scheint und es schafft, introvertiert zu wirken und gleichzeitig leuchtende Farben zu haben; ich musste mehr als einmal verträumt an Mariana Leky denken. Dazu viele schöne Ideen, die Glanzpunkte tupfen in eine Geschichte über Abschiede und den Umgang mit Schmerz: Eigentlich scheint es keinen Grund zu geben, FLUSSLINIEN nicht ans Herz zu drücken. Trotzdem hat mich der Roman von Katharina Hagena nach anfänglicher Begeisterung nicht überzeugt. Und um das ausführen zu können, geht’s ab hier nicht ohne SPOILER.
Die zunächst so anheimelnde Geschichte entfaltet sich auf 390 Seiten und erzählt von zwölf Frühsommertagen im Leben von drei Menschen, die alle auf ihre Art ins Taumeln geraten sind. Da ist Luzie, die gerade die Oberstufe abgebrochen hat, aber nicht darüber sprechen will, was der Grund dafür ist; Arthur, Mitte 20, der als Fahrer für eine Altenresidenz arbeitet und versucht, nicht daran zu denken, wie sehr er seinen Zwillingsbruder vermisst; und schließlich Margit, Luzies Großmutter, die sich trotz ihrer 102 Jahre und verminderter Trittfestigkeit jeden Tag in den „Römischen Garten“ fahren lässt, einen Park in Hamburg-Blankenese.
Margit hört schlecht, spürt aber sowieso lieber dem nach, was nicht gesagt wird, und reist mit ihren Gedanken in die Vergangenheit – zu der Frau, die den Garten angelegt hat: Else Hoffa war ihrer Zeit voraus, eine selbstbewusste Frau in einem Männerberuf, die als Jüdin aus Deutschland fliehen musste … und zuvor für kurze Zeit die Geliebte von Johanne war, Margits Mutter.
Toll gezeichnete Figuren – oder doch überzeichnet?
Katharina Hagena versteht es, uns Lesende im ersten Drittel des Romans für ihre Figuren einzunehmen – auch wenn die Statik der Geschichte möglicherweise fragwürdig ist. So kann man sich erschließen, dass Margit deswegen so fasziniert von der Hoffa’schen Lebensgeschichte ist, weil es von dieser Frau ein greifbares Vermächtnis gibt, während Margits Mutter im Krieg einem Feuersturm zum Opfer fiel. Wacklig wird es bei Luzie: Die zeichnet sich zwar durch einen „königlichen“ Gang aus und durch die Wut, die sie empfindet, seit sie nach einem Schulball von einem Jungen vergewaltigt wurde, ist aber trotz ihrer Traumatherapie nicht in der Lage, ihre ehemals beste Freundin zu durchschauen oder sich zu wehren, als der eigens dafür in die Handlung geplottete Interims-Schuldirektor verbal übergriffig wird.
Und Arthur? Der ist so sympathisch, dass er in seiner Welpenblick-haftigkeit überzeichnet wirkt, weil er alles sein soll: tief verletzt, aber mit Humor gesegnet, differenziert denkend, während er Fantasiesprachen entwickelt (in denen es 143 Worte für die unterschiedlichen Formen von Stille gibt) – aber gleichzeitig nicht aufs Detail bedacht (weswegen er für einen weißrussischen SF-Film eine Alien-Sprache erfindet, die hernach die Blut-und-Boden-Fantasien von Neonazis beflügelt). Zugegeben, das wäre auch etwas viel verlangt, denn vor allem soll der an der Elbe mit einer Sonde nach Verborgenem Suchende, wie bereits erwähnt, um seinen Bruder trauern, der sich bei einem gemeinsamen Tauchgang das Leben nahm. Warum? Tatsächlich frage ich mich, ob ich die Erklärung am Ende überlesen habe. Aber das führt mich auch schon zu meinem eigentlichen Problem mit den FLUSSLINIEN:
Zu viel „Butter bei die Fisch“
Das erste Drittel fließt stimmungsvoll, das zweite tritt für mein Gefühl auf der Stelle, erfreut aber immer noch mit schönen Einfällen wie z.B. einem Konzert in der Seniorenresidenz, das ohne Instrumente oder einen einzigen Ton gegeben wird (wobei man vermutlich keine Sekunde über den „Hach, schön!“-Moment hinaus über die Alltagstauglichkeit nachdenken sollte) – aber wie Katharina Hagena die Geschichte dann meiner Meinung nach im letzten Drittel vor die Wand donnern lässt, ist … erstaunlich. Die Dialoge werden oft artifiziell; alles, was passiert (und das ist eine Menge!), wird mit gedanklichen Ausrufezeichen versehen; und wenn Figuren aus dem Weg geräumt werden? Muss dies natürlich mit einem Paukenschlag passieren – ein brutaler Autounfall hier, ein „Freak Accident“ da, und am Ende noch ein Spontanverscheiden. Ach, und ein Maulwurfweibchen kommt auch ums Leben, nachdem es zuvor als Stellvertreterin für die zerstörerische Naturgewalt des Todes bis aufs Äußerste bekämpft wurde – nur um dann beweint zu werden.
Für mich als Leser von geringem Verstand liegt in FLUSSLINIEN das, was Applaus verdient, immer nah an dem, was irritiert. Ein Beispiel? Es ist, wie bereits erwähnt, großartig, wie Hagena mit der Vergewaltigung Luzies nach einem Schulfest umgeht: Ihre Wut – auch darüber, dass der Täter schnell als Opfer gesehen wird („Heulende Jungs werden noch mehr bewundert als siegende Jungs. Warum sind ihre Tränen so etwas Kostbares? Warum ist Pussy das Wort für Schwächling? Aus Pussys kommen Babys. Kommt Monatsblut. Und fucking Mutterkuchen. Pussys essen Schwänze zum Frühstück.“) – haben mich komplett abgeholt; deswegen ist es umso irritierender, dass Luzie nicht verstehen will, welches Spiel ihre ehemals beste Freundin Merle treibt, selbst als diese ihr „ganz lieb gemeint“ eine „kleine Vergewaltigung“ wünscht.
Das Leben ist kein Wunschkonzert – und das Lesen auch nicht
Es gibt viele Momente, da möchte man in die Hände klatschen, weil die Autorin so geschickt einen kleinen sprachlichen Schlenker setzt, eine trockene Bemerkung, ein einnehmendes Bild. Und trotzdem gerate ich immer wieder ins Stolpern: „Margit mag zum Beispiel keine verzierten Torten“, heißt es. „Sie behauptet immer, dass nur solche Kuchen wirklich etwas taugen, die ein wenig schroff aussehen. Dabei klingt sie selbst ein wenig schroff. Doch Luzie hat ihre Großmutter im Verdacht, dass sie gar nicht über Kuchen, sondern über Menschen spricht, wenn sie das sagt.“ Wann wäre eine unglasierte Torte je als „schroff“ bezeichnet worden?
Zugegeben: Man kann solche Kleinigkeiten entspannt überlesen, zumal man versteht, was Hagena uns mit auf den Weg geben möchte. Aber es ist für mich so ungelenk wie die Beschreibung der Körperlichkeit, als Luzie und Arthur sich am Ende nach jeder Menge „slow burn“ endlich in den Armen liegen.
Wer es schafft, sich an keinem der vielen Widerhaken aufzuhängen, der kann sich sicher mit großem Vergnügen durch die FLUSSLINIEN treiben und von der letzten Seite rühren lassen. Ich war vor allem froh, als es endlich vorbei war … und bin auch Tage nach der Lektüre noch zu ermattet, um mir die Frage zu stellen, ob eine erfahrene Autorin wie Katharina Hagena das alles bewusst so schreiben wollte, ob sie am Steuer eingeschlafen ist – und warum das Lektorat ihr in diesem Fall nicht geholfen hat, die Karambolage zu vermeiden.
***
Ich habe von einer befreundeten Buchhändlerin deren Leseexemplar geschenkt bekommen. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Katharina Hagena: FLUSSLINIEN. Kiepenheuer & Witsch, 2025
Schreibe einen Kommentar