Hank Zerboleschs Episodenroman ist böse, dreckig, aber nicht nur gemein

„Dann der Teppich, dann der Sessel, die Vorhänge, und irgendwann brannte das ganze Zimmer. Und je größer das Feuer wurde, desto kleiner wurde die Hexe mit ihrem scheiß Besen. So klein, dass ich irgendwann in meinem Wohnzimmer stand und tanzte, sang und tanzte wie ein Indianer um sein Lagerfeuer, oder eher in seinem Lagerfeuer drin. – Irgendwann dann kam die Feuerwehr. Als die mich aus meiner Wohnung schleppten, da waren mir die Haare schon weggeknistert und Teile meiner Kopfhaut verbrannt.“

Leider fehlt mir die Gabe, mich unter massierenden Händen zu entspannen – aber wenn ein Text richtig zupackt und mich nach anfänglichem „Aua“ schnell dem „Oh!“ und „Ja!“ entgegenwalkt, dann bin, dann möchte ich nichts anderes sein als ein glücklicher Hefeteig.

Gorbach, am Rand der Großstadt gelegen und doch Lichtjahre entfernt vom Zentrum, hat bessere Tage erlebt, mit einer intakten Nachbarschaft und kleinen Läden; those days are gone. Hier kann man sich nur noch raushalten oder selbst zuschlagen, hier trinkt man Bier und Schnaps im „Kippchen“, wenn man sich langsam umbringen möchte, oder man übernimmt diesen Lebensende-Service bereitwillig für andere. In Gorbach ist einer wie der kriminelle Ele, der nach einem Unfall im Rollstuhl vor sich hindämmert, eine Legende – und die Polizistin, die ihn regelmäßig besucht, eine Randnotiz, das letzte Echo einer Zeit, als es noch so etwas wie Anstand gab.

Der irre Ele und die Polizistin rahmen diesen eng verzahnten Episodenroman ein, der mich auf den ersten Seiten faszinierte, dann ärgerte, zwischendurch regelrecht anwiderte und schließlich hellauf begeistert zurückgelassen hat. Deutscher Buchpreis, bitte zumindest auf die Longlist!

Hank Zerboleschs GORBACH kommt extra-breitbeinig daher, der Bodycount steigt, das Testosteron pumpt hart, denn – ganz im Sinn von Bertolt Brechts Peachum – „die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht, da hab‘ ich eben leider recht“; darüber könnte man fast übersehen, wie genau beobachtet und feinsinnig (wenn auch nicht -fühlig) das alles ausgearbeitet ist. 189 Seiten lang schlagen die Schrapnelle der Handlung um uns Lesende ein, und als die einzige Episode, in der wir kurz hoffen, dass es so etwas wie eine heile Welt geben kann, auf grausame Art endet, hätte ich dem Autor bereitwillig den Allerwertesten mit seiner Ausgabe von LETZTE AUSFAHRT BROOKLYN oder einer Bukowski-Gesamtausgabe versohlt.

Mit Anspielung auf einen Düsseldorfer Stadtteilt stellt Zerbolesch seinem Feuerwerk der Verrohung ein „Du kriegst die Leute aus Garath, aber nicht Garath aus den Leuten“ voran, und obwohl es lohnt, darüber nachzudenken, beschäftigt mich eine andere Frage: Braucht ein so talentierter Erzähler, der in einem mörderischen Kapitel fast ganz auf Satzzeichen verzichtet, hier und da geschickt die Grenze zwischen Realität und Albtraum verwischt, die Erzählperspektiven perfekt ineinander übergleiten lässt und auch dadurch Anspruch auf den Ehrentitel Scheherazade 2.0 hat, diese Tarantino-schmierige Dreckigkeit? Wenn Zerbolesch so unaufgeregt über den Krieg in der Ukraine erzählt, dass er dadurch die Dramatik auf meisterhafte Weise viel fühlbarer macht als durch Ausrufezeichen, warum muss er dann am Ende doch noch genau so eins setzen, indem eine Frau, die es vordergründig gut zu meinen scheint, doch als überheblich und jederzeit zur Ablehnung bereit vorgeführt wird? Und was passiert eigentlich mit dem Jungen auf dem Fahrrad? Aber auch hier erinnern wir uns an die Dreigroschenoper: „Wir wären gut, anstatt so roh, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“ Muss vielleicht genau so sein. Vielleicht wäre ich sogar enttäuscht, wenn es nicht so wäre?

Zwischen einem Säufer, mit dem wir fast selbst durch eine Straße zu wanken scheinen, den Junkies und dem Dealer, zwischen der Moderatorin, die ihre Karriere vor die Wand setzt, und der Junkie-Mutter, die ihr Kind anglotzt, ist kein Platz für Sonnenschein. Aber doch gibt es Momente, in denen ich als Leser von geringem Verstand kurz durchatmen kann – und mich beispielsweise an dieser Lebensweisheit erfreue: „Weißt du, Achim, der Arsch des Nachbarn ist nur so langer schöner, wie du den nicht in Händen hältst.“

Empathie und Hoffnung, wie sie der Rückseitentext verspricht, habe ich zwischen der allgegenwärtigen Perspektivlosigkeit eher nicht gefunden, und wenn die Gewalt, die hier auf nahezu jeder Seite auflodert, wirklich „alltäglich“ ist, nun, dann gute Nacht, Mariechen … (Wobei, zugegeben: Ich bin #team-filiz!) Und doch, und „ach“, und „HACH!“, was für ein Leseerlebnis!

GORBACH, vom Verlag mit einem sehr schönen Einbandmotiv auf handschmeichelnder Leinenstruktur auf heimtückische Art unschuldig verpackt, ist eine Herausforderung, es ist in Teilen eine Überforderung, aber es ist auch – und ich benutze diesen Superlativ bewusst – ein Höhepunkt, vielleicht gar ein Triumph. Leute: LESEN!

Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Hank Zerbolesch: GORBACH. Steidl Verlag, 2024