Wie Doris Wirth das ziellose Rasen im Kopf eines Mannes einfängt, ist große Kunst

„Im Flur hängt ein Foto von uns: Wir vor einem Torbogen, um uns ranken sich Rosen. Ich lehne zwischen den Beinen meiner Mutter, die in Wanderhosen und roten Socken stecken. Ihre Hände ruhen auf meinen Schultern. Mein Bruder blinzelt ins Sonnenlicht. Mein Vater hat einen Arm um ihn gelegt, den anderen um Mama. In seinem Mund klemmt die Pfeife. Man sieht seine Grübchen. – Es ist das einzige Bild von uns in der Wohnung […] Ich hätte nicht geglaubt, dass wir jemals aus dem Rahmen fallen würden.“

FINDET MICH, Doris Wirths auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stehender Familienroman, hat nach meiner Lektüre einen Buchblock mit zahlreichen Eselsohren, weil es so viele Szenen gab, an die ich mich erinnern wollte – und interessanterweise überschreibe ich diese Rezension nun mit der ersten, die weniger … nun, wie beschreibt man das richtig: weniger verstörend ist, weniger abgründig, weniger unangenehmen, weil unter die Haut kriechend?

Aber der Reihe nach (und zur Sicherheit sei gesagt: SPOILERS AHEAD; anders ist es unmöglich, sich diesem Roman zu nähern): Von außen betrachtet sind die Rüeggs eine Familie wie viele: Erwin geht arbeiten, während Maria für Kinder und Haushalt zuständig ist, bis sie zurück in den Beruf findet; Lukas, der Sohn, ist pubertär desinteressiert, was zu Spannungen mit seinem Vater führt, und Tochter Florence zu dünnhäutig für das Leben in einer „schrecklich netten“ Familie, bei der das erste Adjektiv immer größer wird.

Die Kinder sind inzwischen aus dem Haus – und Erwin hat genug: Er will ausbrechen, er will ein Abenteuer erleben, er will sich spüren und die Natur noch dazu. Also bricht er auf, darauf bedacht, Hinweise zu streuen, über die seine Familie ihn finden kann. Ist das alles wirklich nur – oder „nur“ – das egoistische Spiel eines Mannes, der in seiner eigenen Wahrnehmung immer alles für seine Familie getan hat und nun endlich selbst zum Zug kommen will?

Schnell – und faszinierenderweise doch mit quälender Allmählichkeit – erleben wir, dass der Motor für Erwins Verhalten eine Manie ist, ein sich überschlagender Gedankensturm aus Selbstüberschätzung und Assoziationsblitzen. Das zu lesen ist manchmal eine Herausforderung; das zu schreiben war es sicher umso mehr, und daher: Hut ab!

So wie Erwin kreist auch seine Familie um ihn, ein Leben lang abgestoßen von seinen sich hochschaukelnden Launen, seiner Wut – und doch nicht in der Lage, sich aus dieser Umlaufbahn zu lösen. Da ist Maria, die sich an dem Gedanken festhält, ihren Mann zu lieben, die sich kleine Fluchten gönnt, nur um zurückzukehren; Maria, die jedes Jahr schon Anfang Dezember beginnt, Weihnachten akribisch vorzubereiten, als Teil einer Selbstinszenierung, die sie auch in den elf anderen Monaten lebt.

Und die Kinder? Über Lukas, den Sohn, würde man gerne sagen, dass er gegen seinen Vater rebelliert, aber ich habe es doch eher so empfunden, dass er sich treiben lässt und letztendlich den Hauptaggressor im Leben braucht, um seinen Weg in die Zukunft zu finden. Dass seine Freundin, mit der es doch so gut (weil entspannt) läuft, dann anfängt, von Gefühlen zu reden, kommt eher ungelegen; dass sie schwanger wird, ist ein Unfall in doppelter Hinsicht. Doris Wirth lässt offen, ob er sich am Ende selbstsicher für eine eigene Familie entscheidet oder hineinstolpert, und damit auch, wie er mit dem potenziellen Erbe seines Vaters umgehen wird.

Was uns zu Florence führt, der Tochter, der Künstlerin, die in der Pubertät unter einer Essstörung leidet und Zeit ihres Lebens unter der Enge, das ihr Elternhaus nicht nur räumlich für sie bedeutet. Es ist Florence, die als Erste erkennt, was das Monologisieren, die Energieschübe und Stimmungsschwankungen des Vaters bedeuten. Und es ist – bring the drama and make it greek! – Florence, bei der wir am Ende fast sicher sein können, dass sie Erwin ähnlicher ist, als sie wahrhaben will. Oder wir.

Obwohl Doris Wirth uns auf den augenfreundlich gesetzten 323 Seiten auch an den Innenwelten der anderen Rüeggs teilhaben lässt, habe ich sie doch eher als erklärendes Beiwerk zur Vaterfigur empfunden. FINDET MICH, so steht der Titel auf dem Umschlag, und HIER IST ER ALLES auf dem krachfarbenen Leinenstruktureinband darunter (eine schöne Idee der Buchgestalter, nebenbei bemerkt). Genau danach sehnt sich Erwin: alles sein, alles sehen, alles empfinden, alles erleben. So möchte er zum Beispiel grob sein beim Sex, um seine „Männlichkeit“ auszuleben, darf sich dies im Ehebett aber nicht erlauben; sein Geld würde er gerne für sich selbst ausgeben, als es von seiner Familie verschwenden zu lassen. Es gibt Momente, da glaubt man ihm, dass er Maria lange Zeit liebt, vielleicht sogar auf eine zugewandte Art, die es in seiner Herkunftsfamilie so nie gab, doch das alles wird zunehmend überschattet von dem Teil seines Wesens, das sich mehr und mehr Raum nimmt.

Liegt das an den ererbten Traumata, die Erwin nicht aufarbeiten will, ist es die Überforderung eines Mannes, der an der Belastung gescheitert ist, ein liebevoller Vater zu sein? Ist Erwin möglicherweise einfach nur ein Arsch – oder so in den Fängen einer Krankheit gefangen, dass sie zu seiner Geborgenheit geworden ist?

FINDET MICH ist ein Buch, dass mich immer wieder begeistert hat, wenn der Text sich mir unter die Haut zu schieben schien; ich habe nicht das Zeug zum Masochisten, aber Wirth versteht sich gekonnt darauf, das Verstörende, Abstoßende, Befangene so zu dosieren, dass ich weiter und weiter lesen wollte. Sie hat mich spüren lassen, wie es ist, in einen hohlen Baumstamm zu kriechen, sie hat mir Angst gemacht bei einer Sexszene, bei der ich nicht sicher war, ob Erwin eine Grenze überschreiten würde – wobei auch die Frage im Raum steht: Hat sie überhaupt in dieser Intensität stattgefunden, oder ist das nur seine eigene „Heldenerzählung? –, und als er dann in einer Klinik an einer Pflegerin scheitert, habe ich selbst das Gefühl gehabt, ohne mehr Feuchtigkeit in der Luft kaum atmen zu können.

Kritik? Nein. Doch? Hmmm …

Vielleicht ist der Roman ein bisschen zu lang. Vielleicht hätte ich nicht beide Kinder gebraucht, um verschiedene Coping Mechanisms vorgeführt zu bekommen, sondern mich über mehr Raum für Maria gefreut, und vielleicht wäre es dramaturgisch spannend gewesen, über die rüegg’schen Vorfahren nicht nur am Anfang zu referieren, sondern sie als weiteren Erzählstrang durch das Buch zu ziehen … Fragezeichen. Denn: Ich weiß es nicht.

Sicher ist: Ich habe mit FINDET MICH einen Roman gelesen, der vermutlich genau so sein muss, wie er ist. Der stark ist in vielen kleinen und großen Momenten. Der – auch wenn er nun bei einem spannenden Independent erschienen ist – großen Verlagen als Spitzentitel Ehre gemacht hätte. Und der neugierig macht auf alles, was wir von Doris Wirth in Zukunft lesen werden.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Doris Wirth: FINDET MICH. Geparden Verlag 2024