Ein kurzes Interview mit Ronya Othmann zu ihrem Roman VIERUNDSIEBZIG.

VIERUNDSIEBZIG, Ronya Othmanns Roman über den Genozid an den Êzîden, gehört zu den eindrucksvollsten Texten, die ich in den letzten Jahren lesen durfte. Das liegt auch daran, dass die Erzählstimme auf mich wirkt, als könnten wir ihr im Auge des Wirbelsturms lauschen, ruhig, in gewisser Weise gefasst trotz des Tobens um sie herum; gleichzeitig sind es das Tastende, mit dem die Autorin sich den Fakten nähert, der Versuch, ohne eine protokollierende Haltung doch so etwas wie Ordnung zu schaffen in dem, was sich in seiner Unfassbarkeit jeder Sortierung entzieht, die mich tief bewegt haben. Und: VIERUNDSIEBZIG erzählt von etwas, was uns noch Wochen und Monate beschäftigen wird, vielleicht für immer, nachdem wir das Buch zugeklappt haben.

Muss man empfindsame Gemüter warnen? VIERUNDSIEBZIG ist ein Buch, das von barbarischer Gewalt berichtet, uns aber auch aus anderen Gründen wie ein Faustschlag trifft. Sicher kann man es als hochpolitisch einstufen – ich empfinde es vor allem als zutiefst menschlich, bis zu den beiden Extremen, die damit verbundene Schmerzgrenze haben kann. Und gerade deswegen öffnet es uns die Augen und fordert uns heraus, den Mund aufzumachen.

Ich habe dieses Buch gelesen, bevor es für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert wurde – und freue mich sehr, dass die Autorin sich die Zeit genommen hat, mir drei Fragen zu beantworten.

Liebe Ronya, VIERUNDZIEBZIG beruht auf Tatsachen und Deinen Recherchen zum Völkermord an den Êzîden, wird aber als Roman gekennzeichnet. Warum hast Du Dich dafür entschieden?

Ronja Othmann: „Als ich zu schreiben begonnen habe, wusste ich nicht, wohin. Die Tatsachen drängten sich auf, ich konnte nicht in die Fiktion ausweichen, angesichts dessen, was geschah, und ich wusste, ich musste sorgfältig mit ihnen umgehen. Aber wie erzählen? Wie einen Satz beginnen und ihn enden? Und als ich dann daran gearbeitet habe, habe ich oft gedacht, ein journalistischer Text ist das nicht. Es gibt essayistische Passagen, Reiseerzählungen, Protokolle. Der Roman nimmt alle Formen in sich auf.“

Eine Szene aus Deinem Buch werde ich nie vergessen: Eine junge Frau schaut sich auf dem Handy ein Youtube-Video mit Ton an – während neben ihr eine andere Frau verzweifelt über das Schicksal ihrer Familie spricht. Diese Gleichzeitigkeit von Erinnern und Weitermachen, von realer Grausamkeit und der Verführung, sich ablenken zu lassen, hat sich tief in meine Erinnerung eingebrannt. Gibt es eine Szene, die Du herausgreifen würdest, um Lesenden eine Idee zu geben, was sie in VIERUNDSIEBZIG erwartet?

Ronya Othmann: „Interessante Frage. Ich würde die erste Szene nehmen, die habe ich ganz an den Anfang gesetzt:

Ich habe immer gedacht, dass es das Ende ist, wenn der Himmel auf die Erde fällt. Am 3. August 2014 ist der Himmel nicht auf die Erde gefallen, aber trotzdem war es das Ende. Ich schreibe: Eine Frau aus dem Shariya-Camp hat das zu mir gesagt. Ich schreibe:“

Für VIERUNDSIEBZIG musstest Du das Schicksal der Êzîden und all seine grausamen Folgen wieder und wieder recherchieren und reflektieren. Wie ist es Dir beim Schreiben in der steten Gegenwart des schier Unbegreifbaren gelungen, nicht den Verstand zu verlieren?

Ronya Othmann: „Ich weiß nicht, ob das einem wirklich gelingen kann. Man verliert ihn vielleicht immer ein wenig und schreibt dann trotzdem weiter.“

Ich habe Ronya Othmanns Roman VIERUNDSIEBZIG von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet. Bei diesem Interview handelt es sich (trotzdem) nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern ist einfach meiner Neugier geschuldet.

Ronya Othmann: VIERUNDSIEBZIG. Rowohlt Verlag, 2024