Ronya Othmann hat einen Roman geschrieben, der in verschiedener Hinsicht die Grenzen des Möglichen auslotet
„Fani holt Bilder von ihrer [vom IS verschleppten] Tochter und ihrem [vom IS ermordeten] Vater hervor, vergrößert und eingeschweißt, und legt sie vor mir auf den Boden. Sie fängt an zu weinen, und ihr Weinen geht in ein lautes Schluchzen über, das ihren ganzen Körper ergreift. Ich beiße mir auf die Lippe. Meine Cousine Lava neben mit schaut sich Videos auf dem Handy ihrer Mutter an. Sie hat den Ton nicht ausgeschaltet.“
Wie fängt man an, über ein Buch zu schreiben, dass das schier Unaussprechliche festhält? Wie soll man in eigene Worte fassen, was die Sätze einer Autorin auslösen, die darüber schreibt, dass „Menschen“ niederträchtige, ekelerregende Kreaturen sein können? Und wohin mit all der Wut, der Verzweiflung, dem tief im Bauch sitzenden Schrei? Herzlich Willkommen, dies wird kein heiterer Text: Ich werfe sonst gerne Glitzerkonfetti, doch in diesem Fall wäre vermutlich jede Triggerwarnung angebracht, die man sich vorstellen kann.
Er ist nur eine Randnotiz in diesem gewaltigen Buch, aber zur Einordnung des Grauens macht es Sinn, mit Mohammed Pascha Rewanduz zu beginnen, einem kurdischen Fürsten, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts gegen die osmanische Herrschaft erhob – und in der Folge seiner Machtausdehnung ab 1832 auch gegen die ethnisch-religiöse Volksgruppe der Êzîden vorging, die sich weigerte, zum Islam überzutreten. Vorgehen heißt: Völkermord. VIERUNDSIEBZIG Mal hat es in der êzîdischen Zählart den Versuch gegeben, diese Menschen, ihre Religion und ihre Kultur zu vernichten. Einen neuen (vielleicht den schrecklichsten) Höhepunkt des Grauens gab es ab dem 3. August 2014, als der IS mit der systematischen Auslöschung der Êzîden begann: der Hinrichtung der Männer und Alten, der Verschleppung der Frauen, die auf Sklavenmärkten verkauft, vergewaltigt und an Leib und Seele gebrochen wurden. Und die Kinder? Die Jungen, die überleben, wurden oft ins Kindersoldatentum gezwungen. Die Mädchen … nein. Bitte nicht darüber sprechen, nicht daran denken.
Eine, die sich nicht auf das Privileg zurückzieht, so einen Gedanken wegschieben zu können, ist die Journalistin und Autorin Ronya Othmann. In ihrem Roman schreibt sie über das unfassbare Leid, dass dem Herkunftsvolk ihres Vaters – ihrer eigenen Familie – widerfuhr. Sie recherchiert in deutschen Bibliotheken, aber sie reist vor allem auch an die Orte, die einmal Heimat waren und jetzt zerbombte Tatorte sind. Sie spricht mit Opfer und ihren Angehörigen, verzweifelt an „Grenzbeamten“ im Irak, beobachtet einen Prozess in München, taucht ein in die Reiseberichte des britischen Archäologen Austen Henry Layard, der im 19. Jahrhundert die Kultur der Êzîden kennenlernte. Wäre VIERUNDSIEBZIG ein klassischer Roman, so würde sich nun anbieten zu schreiben, dass Ronya Othmann einen imposanten Teppich webt, in dem Vergangenheit und Gegenwart, belegbare Fakten und persönliche Erinnerungen in den schönsten Farben leuchten. Nur: Es ist kein klassischer Roman; die Farben leuchten nicht, sie sind schuttgrau, albtraumschwarz – und wieder und wieder blutrot.
Oft wird erwähnt, dass Othmann fotografiert, um Eindrücke festzuhalten, auch wenn die Fotos bei späterer Betrachtung oft nicht mit dem übereinstimmen, was sich in sie eingebrannt hat. Ronya Othmann ringt mit dem, was sie erfährt und was sie erlebt, sie versucht, eine Form dafür zu finden, sie erschreibt sich den Zugang zu einer Realität, die zu grausam ist, um sie begreifen zu können – und entsprechend irrlichtert der Text auch an vielen Stellen, wiederholt sich, ist auf einmal Interview und Gerichtsreportage, dann wieder die überdetaillierte Darstellung von dem, was die Suchende auf ihren Reisen hört, sieht und erlebt. Hätte ich mir gewünscht, dieses Buch wäre 100, vielleicht sogar 200 Seiten kürzer? Ja. Wüsste ich, wo man den Rotstift ansetzen könnte? Nein. Denn das mögliche Manko ist – vielleicht, vermutlich, tatsächlich – auch die Qualität des Buchs. „Als wäre selbst mein Text ein Trümmerfeld“, schreibt Othmann. „Ich nehme mir vor, die Stücke zusammenzusetzen. Den Satz zu beenden, das falsche Wort durch ein weniger falsches zu ersetzen. Schreiben ist vielleicht Aufbauarbeit, und vielleicht ist auch das eine Illusion. Hier kann es keinen fertigen Text geben, keine Entwicklung bis zur Katharsis, keine Erkenntnis, keine Figuren, keinen Plot.“
Als Leser von geringem Verstand bin ich geneigt zu sagen, dass Ronya Othmann uns nicht schont mit ihrem Buch, aber um ein wackliges Bild zu bemühen: Die Abgründe, in die sie uns blicken lässt, sind wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Und obwohl dieses Buch wenig Fragezeichen enthält, fühlen wir sie auf jeder Seite nachhallen: WARUM? Wie bestialisch sind „Menschen“, die ihre Nachbarn verraten? Die denken, dass man ein kleines Mädchen „verleihen“ darf, weil seine Vorfahren an einen Gott glaubten, der aus seinem Licht einen siebenfarbigen Regenbogen geschaffen hat?
Ronya Othmann erzählt von dem, was war; von dem, was ist; von dem, was kommen kann. Denn zum einen müssen die Überlebenden einen Weg finden, genau dies zu tun (und so sehr ich einen Widerwillen gegen die eingangs erwähnte Cousine Lava verspürt habe, so unsentimental zeigt dieses Zitat auch, was „Weitermachen“ manchmal bedeutet). Zum anderen aber ist die Gefahr, die von religiösem Fanatismus und dem Überlegenheitsdenken sogenannter „Gläubiger“ ausgeht, nicht gebannt – es gibt sie immer noch, es gibt sie überall, für Êzîden, für uns alle.
Und abschließend? Kann ich vielleicht nicht sagen, dass ich VIERUNDSIEBZIG von Ronya Othmann „gerne“ gelesen habe. Aber ich finde es bereichernd, verstörend und wichtig, es getan zu haben.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Ronya Othmann: VIERUNDSIEBZIG. Rowohlt, 2024
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