Ein unterhaltsamer Roman, in dem viele klassische Rollen komplett umgedreht werden
„Sie singen wunderschön. Voller Inbrunst und mit vielen Tränen, die sich in die Falten schleichen und unbemerkt glänzen. Die Musik kitzelt unter der Haut, gibt den Neuronen die Signale, die ein Gefühl von Weite und Zuversicht im Inneren aufblühen lassen. Sie singen auf ein nahendes Ende zu. Mit jedem Lied treten sie näher an die Feuerstelle heran. In den letzten zwanzig Jahren hat ihr Scheiterhaufen an Höhe zugenommen, das Reisig den perfekten Trockengrad erreicht. Die Zeit ist ihr Henker, der fehlende Nachwuchs im Verein ihr Scherge. Sie wussten alle, wie es enden würde. […] Im Oktober vor einhundertdreißig Jahren hatte sich der Männergesangsverein gegründet, so sagen es die Statuten, und an diesem Donnerstag im Oktober verglüht er.“
Früher füllten sie Hallen und begeisterten den Bundespräsidenten, aber während manche Lieder unsterblich werden, sind Menschen es nicht. Und so tritt nur noch ein Dutzend alter Sangesfreunde gemeinsam auf, um z.B. ein bisschen Wärme in Altersheime zu tragen. Zu ihnen gehören Hugo, Hans, Carl und Otto (nebst seinem Sohn Robert, auch jenseits der 60), die sich auf den letzten Auftritt vorbereiten. Die Männer sind nicht ansehnlich verwittert wie ein Sean Connery, sondern vom Schicksal so oft in den Boden gerammt worden, dass es ein Wunder ist, dass sie noch stehen. NACH UNS DAS LEBEN? Von wegen.
Oder vielleicht doch?
Mit leichtem Augenzwinkern sage ich: „Achtung, Mogelpackung!“ Der fröhliche und an Loriot erinnernde Einband des schön ausgestatteten Pappbands sowie der durch den kleinen roten Piepmatz noch angeheiterte Titel verraten nicht, dass wir es hier mit einem „Guernica im Dorfidyll“ zu tun haben: Der Handlungsort stirbt langsam vor sich hin, die Dorfgemeinschaft ist gehässig, wenn’s um das „Ach“ unterm Nachbardach geht, und mit großer Kelle gießt Gudrun Eiden in ihrem Debütroman so viel Unschönes über ihren Figuren aus, dass man sich schaudernd fragt, welcher Superlativ des Familiendramas wohl noch auf uns Lesende einprasseln wird. Der Body Count ist gefühlt so hoch wie in einem Actionfilm, der Schmerz, die Einsamkeit, das Zerbrechen sitzt tief allüberall … und die Frauenfiguren in diesem Buch sind fast ausschließlich Opfer, Täterinnen oder bereits tot.
Und trotzdem, und das ist wirklich das Verblüffende: es funktioniert. Es funktioniert sogar richtig gut, und noch dazu ist es interessant, dass das vermeintlich starke Geschlecht hier komplett für die Rolle herhält, die sonst durch gebeutelte Frauen besetzt wird. NACH UNS DAS LEBEN ist eine trotz – oder auch gerade wegen – der Sepiafärbung glitzernde Schmerzballade, die in den allermeisten Fällen sehr berührt (nur auf die Erwähnung von Gladbeck hätte ich verzichten können – zu viel, zu auf die Zwölf), zumal die kleinen Glücksmomente umso schöner aus dem Tal der Tränen herausscheinen. 191 Seiten Staunen (manchmal auch ungläubiges), mit Männern, die man trösten möchte, weil sie eben kaum in der Lage sind, aus ihren eigenen Schatten zu treten.
Wer Schicksalsgeschichten jenseits aller Großstadtromantik und ohne Dorfverklärung mag – ich denke hier an ALTES LAND und seine Epigonen, also auch die „Bauernhofbücher“, die in diesem Frühjahr so viele Lesende begeistert haben –, der wird sich einen Lesenachmittag lang sehr wohl in diesem Roman fühlen … und dann am Ende ob der kleinen Siege, die auf unsere arthrotischen Helden warten, vielleicht jene Heiterkeit empfinden, die das Einbandmotiv verspricht.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Gudrun Eiden: NACH UNS DAS LEBEN. Penguin Verlag, 2024
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