Constance Debré hat ein Buch geschrieben, in dem selbst Leerstellen Kraft haben
„Warum nicht ein für alle Mal auf die Liebe pfeifen, die sogenannte, in all ihren Formen? Warum müssen wir uns unbedingt lieben, in und außerhalb der Familie, und warum müssen wir uns selbst und anderen immer wieder davon erzählen? Das sehe ich nicht ein. Ich frage mich, wer sich das ausgedacht hat, wann das zustande gekommen ist, ob es sich um eine Modeerscheinung, eine Neurose, einen Tic oder eine Form von Wahnsinn handelt, welche wirtschaftlichen Interessen und politischen Motive dahinterstecken. Ich frage mich, was man vor uns verbirgt, was man mit dieser großen Erzählung von der Liebe eigentlich von uns will.“
Constance hätte allen Grund, wütend zu sein. Dabei sah es doch zunächst so aus, als würde das klappen mit der Vereinbarkeit ihres neuen Lebens mit dem Modell, das sie hinter sich gelassen hat: Sie beendet ihre Karriere als Anwältin, lässt sich die Haare kurz rasieren und die Arme tätowieren, nimmt sich Frauen, erst eine, dann viele, und als sie merkt, dass es das jetzt für sie ist, sagt sie es auch ihrem Exmann, der daraufhin mit ihr schlafen will – und ihr den gemeinsamen Sohn Paul, zu diesem Zeitpunkt 8, entzieht.
Verliert Constance den Boden unter den Füßen – oder gibt ihr die erzwungene Trennung von ihrem Kind, die ein Gericht anordnet, die Möglichkeit, Freiheit auszuleben? Constance verdient kein Geld mehr, sie gibt ihre Wohnung auf; sie kommt hier und da unter, sie stielt sie vögelt sie hinterfragt, sie trennt sich von allem und allen, sie schwimmt, nicht nur im Hallenbad, sondern auch in einem Leben, das sie ganz dem Schreiben widmen will. Frauen kommen und gehen, die einen tragen Bezeichnungen wie „die Erste“, „die Zweite“, „die Junge“, die anderen werden nur durch den ersten Buchstaben kenntlich gemacht. Constance ringt mit ihrer Sexualität, mit den Behörden, mit dem, was man Liebe nennt, mit ihrem Exmann … und manchmal auch mit ihrem Kind.
Und wir? Wir können atemlos lesen, was Constance D. denkt – die fiktive –, ohne zu wissen, wie viel Bezug das hat zu Constance Debré, der realen. Laut Wikipedia hat sich die französische Autorin mit ihrer nach vorangegangenen Büchern veröffentlichten Trilogie, deren Mittelband LOVE ME TENDER ist, vom dezidiert autobiographischen Erzählen verabschiedet; was Fiktion ist und was nicht fällt aber so wenig ins Gewicht wie die vielen Leerstellen, die diesen dichten, gerade einmal 149 Seiten umfassenden Text nicht schmälern, sondern muskulöser machen.
Debré (die echte), Enkelin eines französischen Spitzenpolitikers, den sie selbst vor Gericht vertrat, Tochter eines Ex-Mannequins und eines bekannten Journalisten, substanzabhängig die eine wie der andere, ist eine faszinierende Persönlichkeit, wenn auch vielleicht keine, mit der man sich entspannt auf ein Glas Wein verabredet? Ihr Text, der von vielen Kritikübenden als „radikal“ und „kompromisslos“ empfunden wird – was ich als Leser von geringem Verstand gar nicht so empfunden habe, Madame ist nun mal ein tough cookie, so what –, flirrt zwischen den oft kurzen Kapiteln vor (An-)Spannung, ist stilistisch glänzend poliert und gleichzeitig voller Kratzer. Aber – wie bereits erwähnt – in meiner Wahrnehmung ohne Wut: Constance (die fiktive) hätte diverse Gründe, um anzuklagen oder verbittert zu sein, aber das einzige, was die Autorin ihrer Figur zugesteht (möglicherweise auch sich selbst), ist eine ermüdete Frustration, genau beobachtet, ohne Pathos zu Papier gebracht und wie das ganze Buch ohne den Versuch, um Sympathie zu werben. Das hat mich wirklich gefangen genommen und berührt (und das mit der Wut, das habe ich weniger gut im Griff als die beiden Constances).
Ist LOVE ME TENDER – in der fließenden Übersetzung von Max Henninger – nun eine literarische Selbstermächtigung oder ein auf die Provokation ausgelegtes Spiel mit den Antithesen dessen, was althergebracht als „feminin“ betrachtet wird? Fragt dazu doch bitte literarisches Fachpersonal. Was ich aber sagen kann: WOW, und JA, und LESEN!
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Constance Debré: LOVE ME TENDER. Aus dem Französischen von Max Henninger. Matthes & Seitz Verlag, 2024
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