Es fühlt sich fast wie ein Frevel an, diesen Bestseller nicht zu mögen

„‚Ohne Plan ist sowieso am geilsten‘, sprach Nico die große Wahrheit aus und lehnte sich zurück, weil man eine große Wahrheit ausgesprochen hatte in den Weinbergen. Fatih lehnte sich auch zurück und Piero auch, ich lehnte mich auch zurück, und dann lehnte sich, ohne Scheiß, das komplette Neckartal zurück, kurz knirschte der Horizont.“

Mal sitzt man zwischen den Stühlen, mal auf dem Trockenen, und in Nesseln, da möchte man eher nicht Platz nehmen. Was ich jetzt trommelwirbelnd voranschicke, da ich mich als der vermutlich einzige Mensch oute, der mit dem Bestseller MDWAWPSADGDGMDANV hadert. Er ist … okay. Ganz sicher nicht schlecht. Aber gut?

Vielleicht sollte ich vorausschicken, dass dies das erste Buch ist, das ich von Saša Stanišić gelesen habe, und das mit gehöriger Erwartungshaltung: Die Süddeutsche Zeitung jubelt, der Autor habe „das absolute Gehör“ für die deutsche Sprache, die Frankfurter Rundschau attestiert ihm neben Witz auch „literarische Courage“. Und ich Leser von geringem Verstand? Bin mehr bei „Hmm“ als „Hurra“.

Die Rahmenhandlung: Fatih spinnt sich, in einem Weinberg liegend, spätpubertär die Idee zusammen, eine Maschine zu entwickeln, mit der man einen Blick in die Zukunft werfen kann – und am Ende des Buchs ist ihm dies gelungen, auch wenn der Zukunftsraum einige Nebenwirkungen hat. Dazwischen eingebettet sind nun diverse Geschichten: So lernen wir Fatihs Mutter kennen, deren Leben durch eine Fehlentscheidung einen Weg eingeschlagen hat, mit dem sie nicht glücklich ist, oder Georg, einen Vater, der sich von seinem Chef und seinem kleinen Sohn gleichermaßen an die Wand gedrängt fühlt. Die titelgebende Witwe löst Kreuzworträtsel, eine Doppelkopfrunde ersetzt einen Freund durch einen Reichsbürger, und dann ist da auch noch einer der Weinberg-Jugendlichen, der auf den Namen Saša hört, inzwischen herangewachsen ist und nun Helgoland besucht, nur um zu merken, dass er nichts weiter ist als die Romanfigur eines Autors, der ein verwirrendes Spiel mit ihm treibt …

Nicht auf jeder Seite, aber in jeder Geschichte gibt es Textstellen, die man sofort auf Postkarten schreiben und an liebe FreundInnen schicken möchte, so pointiert bringt Stanišić die kleinen und großen Wahrheiten des Lebens auf den Punkt – ganz egal, ob er in zwei kurzen Sätzen die Absurdität der Gentrifizierung vorführt, einen herrlich bissigen Kommentar über zur Schau gestellte Diversity-Begeisterung macht oder, siehe einleitendes Zitat, einen entspannten Berg die Welt zum Zittern bringen lässt. Außerdem öffnet er jenseits des magischen Realismus die Tür für das Unmögliche: Da wird die Zeit eingefroren, mutieren Gießkannen zu Tinder-Swipes und taucht neben der Tigermücke auch ein Militärpanzer dort auf, wo beide nichts zu suchen haben.

Ich bin sicher, dass Lesende, die mit ihren Lektüren selten den Boden des real möglichen verlassen, von diesen Spielereien entzückt sein werden. Und ja, ES PFEIFT DER WIND […], jener Text, in dem der Autor die literarische Figur Saša piesackt, ist großes Kino (möglicherweise mit latenter Überlänge). Und nochmal ja, natürlich ist es eine Freude zu erleben, mit wie viel lesbarer Begeisterung Stanišić fabuliert, erfindet, Blickwinkel weitet oder gar verschiebt. Nur: Ich habe das zunehmen wie Extrabordüren empfunden, hübsche Schleifen und Applikationen, die darüber hinwegtäuschen, dass der Grundschnitt vielleicht nicht raffiniert genug ist; um mit der großen Alltagsphilosophin Heidi K. zu sprechen: „It’s a bit costumey – you have to edit, edit, edit.“

Wenn Stanišić im zweiten Text über Fatihs Mutter schreibt, dann ist das gut gemeint, aber im Jahr X nach Aydemirs DSCHINNS zu kurz gesprungen; wenn er in den Geschichten um die Kartenspieler das Skurrile nicht am Rande einfließen lässt, sondern es zur Antriebsfeder macht, mögen Literaturkritisierende in die Hände klatschen, aber ich als Leser von geringem Verstand bin raus; und wenn er am Ende seine Idee mit dem Zukunftsraum dadurch bricht, dass die Vergangenheit nicht so gesetzt ist, wie sie scheint (und Heinrich Heine an mehr denkt als Deutschland in der Nacht), dann finde ich das ebenso unbefriedigend wie den Auftritt eines kuscheligen Bären oder eines besorgten Staatsoberhaupts, das sicher als Hihi-haha-höhö funktionieren kann; für mich wirft es eher die Frage auf, ob bei einem Autor, der an anderer Stelle so brilliert, mehr drin gewesen wäre als diese Prise Mario Barth.

Vielleicht bin ich mit zu großer vorfreudiger Erwartung an dieses Buch gegangen; vielleicht stolpere ich deswegen darüber, dass der auktoriale Erzähler den Realitäten seiner Figuren nicht immer gerecht zu werden – oder treu zu bleiben – scheint. (Und vermutlich sollte es mich nicht pieksen, dass die Herstellung des Luchterhand Verlags vergessen zu haben scheint, dass man eine Textstelle, die betont in einer schnörkellosen Groteske gesetzt sein soll, nicht in einer kursiven Serifenschrift belassen muss.) Wenn mir jemand die Faszination dieses Buchs – möglicherweise die Faszination Stanišić – so erklären kann, dass ich’s verstehe, ich wäre sehr dankbar, pretty please. Bis dahin mache ich es mir entspannt in den Nesseln bequem, das Brennen ignorierend, das ich auf diesen 252 Seiten zwischen den kurzen textlichen Highlights das große Vergnügen nicht gefunden habe.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Saša Stanišić: MÖCHTE DIE WITWE ANGESPROCHEN WERDEN, PLATZIERT SIE AUF DEM GRAB DIE GIESKANNE MIT DEM AUSGUSS NACH VORNE. Luchterhand, 2024.