Die französische Erfolgsautorin erzählt eine Geschichte, die uns nicht nur olfaktorisch fordern möchte
„M. liegt neben mir und sieht aus, als würde er schlafen. Er ist nackt. Schon seit gestern Morgen. Ich glaube, ich gewöhne mich allmählich daran. Das ist sein neues Ich. Ich habe ihn geschüttelt, viel geweint, bin zornig geworden, habe ihn geohrfeigt, und dabei wusste ich, dass er tot war, glaube ich, ich bin nicht verrückt, aber die Wut hat mich übermannt. Warum hat er es da nicht rausgeschafft? Wie konnte er sich so gehen lassen? Ich brauche Wein.“
Es soll ein schönes Wochenende werden: die Natur genießen, den Sex, ein Bad im See. Aber es kommt anders. Das liegt nicht daran, dass M., dieser begehrenswerte Mann, mit einer anderen Frau als der Ich-Erzählerin verheiratet ist … sondern am See. In diesem ertrinkt M. – und die Ich-Erzählerin muss kräftig strampeln, um nicht unterzugehen. Oder tut sie es? Sie bringt M. ins Ferienhaus. Sie schläft neben ihm. Es gelingt ihr, ihn in ihr Auto zu tragen. Nur eins schafft sie nicht: die Polizei zu rufen, alles den schrecklich normalen Lauf der Dinge nehmen zu lassen. Denn dann würde man ihr M. wegnehmen. Und das könnte sie nicht ertragen …
Es ist eine ungewöhnliche Geschichte, die Adeline Dieudonné erzählt, und es ist interessanterweise eine, in der Leichengeruch, Fliegen, der Ausfluss aus dem toten Körper so im Hintergrund bleiben, dass sie die Eleganz der Erzählung nicht stören. Selbst die zunehmende Manie der Ich-Erzählerin – und fragwürdige Ideen der Autorin wie ein Schlangenbiss – ändern nichts daran, dass diese 247 Seiten eine Ruhe ausstrahlen, die mich an die Glasur einer Tonskulptur erinnerte: Man weiß, dass sich unter dem glatten Glanz etwas Dunkles, Erdiges, Zerbrechliches verbirgt … aber warum sollte man daran denken?
Dieudonné erzählt von einer Frau, die sich der vererbten Traumata ihrer Vorfahrinnen bewusst ist, aber ihre Männer trotzdem aus diesem Schatten heraus wählt – den Vater ihrer Tochter, den sie nicht lieben kann; den Vergewaltiger, dessen rabiate Maskulinität sie anziehend findet; und schließlich M., mit dem sie ihr Glück gefunden zu haben scheint, der aber stets in den Alltag mit seiner Frau zurückkehrt. Die Ich-Erzählerin stellt weder ihn noch ihre Liebe in Frage, und erstaunlicherweise habe ich Leser von geringem Verstand es auch nicht getan.
Stattdessen erschien es mir nachvollziehbar, dass sie M.s Leiche nicht loslassen will, dass sie sich vor dem Verlust in Fantasien flüchtet wie in diejenige, ihn selbst zur letzten Ruhe zu betten, fernab von Menschen, die durch ihre Anwesenheit die letzte Intimität stören würden. Sind wir zurechnungsfähig, wenn wir verlieren, was unser Mittelpunkt ist? Was weiß denn ich. (Mein Mann hat vorsorglich Badeverbot.)
Etwa ab der Hälfte des von Sina de Malafosse fließend ins Deutsche übertragenen Romans verflog meine atemlose Begeisterung, denn dann führt Dieudonné nach einem Moment des Comic Relief mit der „Feuerheilerin“ Sonia eine Figur ein, die auf ihre Art ebenso überzeichnet ist wie das Verhalten der Ich-Erzählerin, mich aber dadurch mit der Nase darauf stieß, dass das, was ich vorher mit so viel Faszination aufgesogen hatte, komplett unrealistisch ist. Die Autorin ordnet das, was der Ich-Erzählerin widerfährt, als posttraumatische Psychose ein – und lässt sie am Ende, nachdem M. wie König Artus davongleitet, ungeschoren davonkommen. Das verwundert, stört mich gar, da sie mit ihrem Verhalten nicht nur M.s Leiche, sondern vor allem seiner Frau Camille Gewalt antut: Dieser schildert sie in zwei langen Briefen, was nach M.s Tod passiert, offen, verletzlich und verständnisheischend, dabei aber mit egozentrischer Brutalität.
Warum ich mich doch mit einem Lächeln von BLEIB verabschiede, in dem gefühlt jedes Detail mit Bedeutung aufgeladen ist? Weil ich es mag, wenn Frauenfiguren über die Stränge schlagen. Wenn sie Täterinnen werden, wenn sie die Hände nicht brav falten, sondern wütend die Fäuste ballen gegen das, was erwartet wird. Vom Wein mit dem Geliebten zum archaischen Abschiedsritual, das unter die Haut geht – wow! Und so ist der Roman von Adeline Dieudonné ein abgründiges Vergnügen, schnell gelesen, von der Grundidee einmal abgesehen vielleicht auch schnell wieder vergessen, aber für den Moment ein Ausrufezeichen.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Adeline Dieudonné: BLEIB. Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. dtv, 2024
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