Ein historisch anmutender Abenteuer-Roman mit übernatürlichem Element: klingt wirr, ist super!

„Am hinteren Ende des Wagens befindet sich in einer Wandnische ein kleiner Schrein mit einer Ikone der heiligen Mathilda und einer Statue von Yuan Guan. Eine Heilige und ein Gott, die über die Reisenden wachen – und über die Zugleute, die zwar auf die Mechanik vertrauen, auf Räder und Achsen und Öl, aber dennoch finden, es könnte nicht schaden, für alle Fälle auch dem Göttlichen ein wenig Anerkennung zu zollen. Hatten sie schließlich nicht alle in den Weiten des Ödlands Dinge gesehen, die noch unmöglicher waren als die Wunder, die diesen beiden zugeschrieben wurden?“

AGATHA CHRISTIE MEETS AVATAR: Besser kann man dieses hervorragend geschriebene und von einer eigentümlich blühenden (und durchaus modrigen) Sinnlichkeit durchzogene Lesevergnügen nicht zusammenfassen. Es ist ein Buch, das sich der konkreten Genrezuordnung entzieht – und zwischenzeitlich softe Horrornoten anklingen lässt –, meiner Meinung nach aber auch alle abholen kann, die denken, dass Fantastik sie nicht interessiert. Zudem gelingt es Sarah Brooks meisterhaft, uns durch ihren Erzählton ans Ende des 19. Jahrhunderts zu versetzen; in einer TV-Serie wäre dies einer millionenschweren Ausstattung geschuldet, und ich empfinde es als Kunstwerk, dass es auf den 413 Seiten in der hervorragend fließenden Übersetzung von Claudia Feldmann allein durch Wörter gelingt.

Umgeben von riesigen Schutzmauern liegt es da, das Ödland, jenes gigantische Gebiet zwischen China und Russland, in dem eine Veränderung stattgefunden hat – ein Evolutionsschub hat Menschen und Tiere getötet, dafür aber neue Spezies hervorgebracht. Die dreiwöchige Durchquerung ist nur mit dem Transsibirien Express möglich, einem zur Festung umgebauten Zug, der die wichtige Handelsroute verteidigt und neben Passagieren in der ersten und dritten Klasse vor allem jene Waren befördert, die den Weltmarkt bisher so zuverlässig am Laufen halten. Doch diese Durchquerung ist eine besondere, die erste nach einem rätselhaften Vorfall vor einigen Monaten …

In diesem Szenario treffen nun unterschiedliche Figuren aufeinander: eine mondäne Gräfin mit ihrer nervösen Zofe, ein ehemals berühmter Naturforscher, eine junge Witwe, von der wir gleich zu Beginn erfahren, dass ihr Name eine Lüge ist, außerdem der Kartograph, der unter seinen Ärmeln ein Geheimnis verbirgt, und natürlich das Zugkind: Ihre allein reisende Mutter starb bei Weiweis Geburt, und inzwischen ist die zur jungen Frau Herangewachsene so etwas wie Maskottchen und Mädchen für alles. Weiwei fürchtet das Ödland, obwohl sie sich nach jeder Durchquerung sehnt … und kann sich so wenig wie der Rest der Crew daran erinnern, was auf der letzten Fahrt geschehen ist. Denn wenn etwas vom Ödland in den Zug gelangt wäre, hätte er den strengen Regeln folgend versiegelt werden müssen, um eine Kontaminierung der „zivilisierten“ Welt zu verhindern, auch wenn das den Tod aller Reisenden bedeutet hätte …

Ich bin kein Fantasy-Leser, deswegen kann ich nicht beurteilen, ob das World Building gelungen ist – mich hat überzeugt, dass Sarah Brooks vieles vage lässt, da es für die Figuren Gegebenheiten sind, wie das Ödlandweh, ein Abgleiten des Verstandes. Und ich mochte kleine – oder nicht ganz so kleine – Details wie die Zugsprache Railhua, eine Mischung aus Russisch, Chinesisch und Englisch, die von den Erbauern des Zugs erfunden wurde, aber von der Handelskompanie missbilligt wird. Überhaupt, die Kompanie: Natürlich ist klar, dass ein weltweit agierendes Wirtschaftsunternehmen, dessen beide Vertreter an Bord des Zugs (genannt „die Krähen“) bedrohlich wirken, nichts Gutes im Schilde führen wird; Parallelen zu unserer realen Welt mit seinen internationalen Konzernen sind sicher alles andere als zufällig. Aber auch die Ziele der Witwe sind zunächst nicht klar, der Naturforscher plant das Ungeheuerliche, und warum hat sich eine blinde Passagierin, den Weiwei entdeckt, an Bord geschlichen? Für weitere Spannung sorgt die nach einem Unfall auftretende Wasserknappheit. Und immer stärker scheint klar zu sein, dass das Ödland, seine Flora und Fauna nicht bereit sind, den Zug gehen zu lassen (man spiele an dieser Stelle bitte dramatisch anschwellende Musik ein).

HANDBUCH FÜR DEN VORSICHTIGEN REISENDEN DURCH DAS ÖDLAND ist spannend, immer wieder überraschend, es hat mich wirklich fasziniert … und es ist auch durch die Ausstattung ein Vergnügen, vielleicht nicht unbedingt durch den Schutzumschlag, aber durch die Einbandgestaltung und das Vorsatzpapier mit dem Zugplan.

Eine Freundin las Sarah Brooks‘ Debüt als Parabel auf die heutige Welt. Dem schließe ich mich nicht unbedingt an, habe mich aber von der ersten Seite bis zum ebenso epischen wie unheimlichen Ende bestens unterhalten gefühlt. Und ich applaudiere dem Verlag für seinen Mut, in einer für die Branche herausfordernden Zeiten, wo die geradlinigste (also: die einfachste) Lösung zunehmend die einzig mögliche zu sein scheint, ein alles andere als stromlinienförmiges Buch zum Spitzentitel zu machen. Denn eine Zuspitzung wie „Agatha Christie meets Avatar“ ist in diesem Fall kein Deckmäntelchen für Themen-Kuddelmuddel, sondern ein USP für sehr gute Unterhaltung.

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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Sarah Brooks: HANDBUCH FÜR DEN VORSICHTIGEN REISENDEN DURCH DAS ÖDLAND. Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. C. Bertelsmann Verlag, 2024