Schlau, schnell und damit spielend, dass es diese besondere Zeit im Leben gibt zwischen der Jugend und dem Erwachsensein
„Ich erbat mir Bedenkzeit bis zum Dessert. Dass ich meine Vorstellung von der Zukunft auf den kleinen Wink hin ändern kann, betrachte ich als eine meiner größten Stärken. In meiner Zukunft hat alles Platz.“
Am 17. Mai landet eins von vielen Flugzeugen in New York, und vielleicht ist die junge Frau mit dem exotischen Teint und dem britischen Pass auch nur eine wie viele andere – aber in ihrem Leben, da ist die 21-jährige Isa Epley ein Star. Und sie ist entschlossen, den Big Apple zu ihrer Bühne zu machen: Gemeinsam mit ihrer Freundin Gala wohnt sie zur Untermiete in einem winzigen Zimmer, verkauft Kleider auf Trödelmärkten, arbeitet als Aktmodell und Komparsin … und lässt sich nie anmerken, dass sie abgebrannt und manchmal halb verhungert ist, während sie von Party zu Party streift, alte Bekannte trifft und neue Eroberungen macht. Aber ist das alles nur ein langer Tanz am Rande des Abgrunds – oder die viermonatige Ouvertüre zu Isas neuem Leben?
HAPPY HOUR beginnt schwungvoll, lässt zwischendurch durchaus nach, begeistert mich aber neben einem Kapitel, das ganz der Trauer um Isas Mutter gewidmet ist, immer wieder mit schlauen Gedanken im kapriziösen Geflitter – und führt die meiste Zeit auf charmante Art nirgendwo hin, was durchaus als Qualitätsmerkmal zu betrachten ist. Marlowe Granados reiht ohne aufdringlichen Handlungsbogen Szenen aneinander, von denen viele auch als Kolumne funktionieren würden. Laut Rückseitentext legt die Autorin so „den hohlen Kern unserer Klassengesellschaft frei“, was man gerne annehmen darf, auch wenn dieses Versprechen meiner Meinung nach nicht eingelöst wird; die Erkenntnis, dass es in einer Nachtschwärmenden-Szene manchmal oberflächlich zugehen kann, ist nicht neu. Und das arrivierte Männer sich etwas davon versprechen, wenn sie junge, schillernde Frauen einladen, wusste vermutlich auch schon Goethes Gretchen?
Ist HAPPY HOUR also voll von beseeltem Schöpferinnenatem … oder eher heißer Luft? Der Roman erinnert mich an den von mir früher sehr geliebten Episodenroman GROSSSTADTSKLAVEN von Tama Janowitz und der Vorlage für SEX AND THE CITY von Candace Bushnell (with a little twist of „Breakfast at Tiffany’s“, das Buch, nicht der Film). Beide waren zu ihrer Zeit „State of the Art“, sind inzwischen aus der Zeit gefallen und finden hier nun eine ebenso zeitgenössische – wie für den Moment zeitlos zu lesende – Entsprechung.
Es ist ebenso vergnüglich wie schlau, wenn eine schmuddelige Schriftstellerbar dadurch beschrieben wird, dass die Autoren (und nein, hier muss nicht gegendert werden) auf den Fotos an der Wand allesamt nach Verdauungsproblemen aussehen. Oder wenn ein typisches New-York-Gespräch dadurch charakterisiert wird, dass zwei Menschen darauf warten, wann sie endlich mit Reden dran sind. Oder wenn auf verblüffend einfache Art erklärt wird, warum Sport so viel einfacher ist als Kunst und Schönheit. HAPPY HOUR tut so, als wäre es flatterhaft … aber um es mit den Worten von Isas Freundin Gala auszudrücken: „Wenn du schlauer bist, als du aussiehst, bist du klar im Vorteil.“ (Gala indes ist es eher nicht.)
Natürlich ist es darum auch kein Zufall, dass Isas Lieblingsgemälde in der New Yorker Frick Collection das Porträt der Comtesse d’Haussonville von Ingres ist (hier will nicht nur die Autorin zeigen, dass sie ihre kulturellen Verweise gut zu wählen weiß, sondern es passt auch tatsächlich supi zur Protagonistin), der das folgende Zitat zugeschrieben wird: „Ich war zum Betören bestimmt, zum Locken und Verführen, um an Ende all jenen Verderben zu bringen, die in mir ihr Glück suchten.“ Gleichzeitig ist es aber vor allem Isa selbst, die immer mit einem Fuß nah am Verderben steht, wenn sie beispielsweise eine Einladung in die Hamptons annimmt; dieses kurze Kapitel könnte DIE EINLADUNG von Emma Cline inspiriert haben, ist aber komprimierter und gerade deswegen cool, weil wir hier ganz nebenbei noch einmal vorgeführt bekommen, dass Isa sich als Chronistin versteht, und zwar nicht nur des eigenen Lebens, sondern auch der Welt um sie herum.
Im bereits erwähnten Kapitel, das mit „6. August“ überschrieben ist, schreibt Granados dann über den Tod von Isas Mutter, und diese gerade mal sechs Seiten haben mich sehr berührt; sie sind eine Zäsur im von Stefanie Ochel fließend übersetzen Roman und ein Paukenschlag, der mir von diesen 300 Seiten hoffentlich in Erinnerung bleiben wird.
Schlau, schnell, Sommerhitze-flirrend und damit spielend, dass es diese kurze Zeit im Leben gibt zwischen der Jugend und den ersten Vorboten des Erwachsenseins, an die wir uns sicher alle manchmal mit leichtem (und alle Widrigkeiten verklärenden) Seufzen erinnern: HAPPY HOUR ist ein Buch, das mir immer wieder großes Vergnügen bereitet hat – unter anderem übrigens auch durch das Einbandmaterial, ist das eine handschmeichelnde Seidenstruktur? In Amerika ist der Roman bereits 2020 erschienen, es gibt jede Menge begeisterter Stimmen, aber trotzdem ist noch kein weiteres Werk von Marlowe Granados angekündigt; ich hoffe wirklich, es wird eins geben.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Marlowe Granados: HAPPY HOUR. Aus dem Englischen von Stefanie Ochel. Carl Hanser Verlag, 2024
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