Ein schwungvoller Roman mit Biss und viel französischem Charme

„Weit unten, tief in ihrem Innersten, unter ihrer Kriegerinnenrüstung, muss noch etwas von ihr schlummern, irgendwo steckt ein Rest von der Johar, die von der Freiheit einer Eule träumte und sich auf einem Zweig vom Wind schaukeln lässt. – Johar klaubt den einsamen Korianderstiel von ihrem Teller. Die gezackten Blätter entfalten ihren Geschmack, den Geschmack eines letzten gestohlenen Augenblicks.“

Ein normaler Sommerabend in Paris? Ja, natürlich … oder vielleicht auch nicht? Étienne, wohlsituiert, attraktiv und gebildet, hat seinen besten Freund Rémi zum Essen eingeladen, und wie nett wäre es, wenn der seine vielbeschäftigte Frau Johar mitbringen könnte? Étiennes Freundin Claudia wird etwas Leckeres kochen, sie ist doch so gerne Gastgeberin, und dann wird man ungezwungen plaudern, ein Glas Wein trinken und es sich einfach gut gehen lassen. Soweit der vorgetäuschte Plan. Aber natürlich geht er nicht auf.

Ein stylishes Appartment in einem guten Arrondissement, ein Abend unter FreundInnen, dazu die Ahnung, dass hier nicht alles so ist, wie es scheint: Das alles legt den Gedanken nah, dass es sich bei DER SOMMERABEND um einen neuen, mit dem Skalpell geschriebenen und von galligem Humor durchzogenen Roman von Yasmina Reza handelt – mais non, die Autorin heißt Cécile Tlili. Sie wurde für ihr Debüt, in dem sie elegant vielerlei Themen verhandelt wie Herkunft, Klassismus und die Fallstricke des eigenen Wesens, mit einem französischen Literaturpreis ausgezeichnet und hat mich von der ersten Seite an begeistert, obwohl … und gerade weil … sie nicht die von mir ebenfalls geschätzte Yasmina Reza ist.

Es gibt einiges, was die beiden Autorinnen verbindet: Sie schreiben über zunächst alltäglich wirkende Figuren, die ihre Unsicherheit und Niedertracht, ihre Traurigkeit und Wut hinter einer sorgsam kuratierten Inszenierung verbergen – und lassen uns dann daran teilhaben, wie die polierte Oberfläche Risse bekommt. So ist es auch in EIN SOMMERABEND (und keine Sorge, ich spoilere nicht):

Claudia, die sich doch so auserwählt fühlen möchte durch die Aufmerksamkeit ihres schönen Freundes, droht an den nicht eingelösten Hoffnungen zu ersticken; Johar, als Tochter von Einwanderern ursprünglich ganz weit unten in der gesellschaftlichen Hackordnung, hat nach jahrelangen beruflichen Kämpfen nun die große Chance, auf die sie immer hingearbeitet hat; Rémi, der sich durch seine starke Frau schon lange kastriert fühlt, würde sich derweil gerne dauerhaft in die Arme seiner jungen Geliebten flüchten; und Étienne?

Ach, hört mir auf mit Étienne! Lange habe ich keine Romanfigur mehr so verabscheut, dieses Alpha-Hetero-Männchen, das nichts anderes ist als ein auf seine vermeintlichen Privilegien vertrauendes Würstchen. Er denkt, er ist ein Mastermind; er denkt, dieser Abend wird seine große Chance. Nun, ich erwähnte es eingangs bereits, keiner der diversen Pläne für diesen Abend wird aufgehen.

Der von Norma Cassau fließend aus dem Französischen übersetzte Roman von Cécile Tlili ist genau so schlau wie die weltweit gefeierten Gesellschaftssatiren von Yasmina Reza, für mich vielleicht aber ein noch größeres Lesevergnügen – was auch daran liegt, dass sie den Text weniger atemlos herausfeuert, sondern durch Zeilenumbrüche strukturiert und ihn dadurch für mich Leser von geringem Verstand deutlich zugänglicher macht. Ihre Figuren sind ähnlich exemplarisch für bestimmte gesellschaftliche Problemstellungen, aber nicht bis ins Extrem hochgedreht, und die elegante Gehässigkeit, die Reza oft wie aus einem übervollen Weinglas im weiten Schwung über die Szenerie spritzt, ist hier geringer dosiert. Tatsächlich wird man Claudia schnell ins Herz schließen, Johar immer wieder zujubeln, man kann Verständnis haben für Rémy … und Étienne? Über den heißt es immerhin, dass er „die tragische Schönheit zu jung gestorbener Stars“ hat und „anziehend ist wie die Jungs, in die man sich als Teenagerin unsterblich verliebt, denen man im Schulhof beim Fußballspielen zuschaut, bibbernd vor Sehnsucht und Frust beim Anblick ihres schweißgetränkten Shirts oder aufgeschlagenen Knies“. Aber: NEIN, für Étienne wird man auch am Ende nichts anderes als Abscheu empfinden.

Kurz: EIN SOMMERABEND ist gerade einmal 192 Seiten lang, ein Roman wie geschaffen für ein entspanntes Lesewochenende, an dem man intelligent und schwungvoll unterhalten werden möchte.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Cécile Tlili: EIN SOMMERABEND. Aus dem Französischen von Norma Cassau. Kein & Aber Verlag, 2024