Jenny Erpenbecks Roman ist Schullektüre, wie ich sie mir als Jugendlicher gewünscht hätte

„Heimat planen, das ist sein Beruf. Vier Wände um ein Stück Luft, ein Stück Luft sich mit steinerner Kralle aus allem, was wächst und wabert, herausreißen, und dingfest machen. Heimat. Ein Haus ist die dritte Haut, nach der Haut aus Fleisch und der Kleidung. Heimstatt. Ein Haus maßschneidern nach den Bedürfnissen seines Herren. Essen, Kochen, Schlafen, Baden, Scheißen, Kinder, Gäste, Auto, Garten. […] Dem Leben Richtung geben, den Gängen Boden unter den Füßen, den Augen einen Blick, der Stille Türen. Und das hier war sein Haus.“

Als Schullektüre ist Jenny Erpenbecks 2008 veröffentlichtes viertes Buch vermutlich inzwischen so überinterpretiert, wie ein Roman nur sein kann – und ja, ich wäre froh, es hätte schon auf dem Lehrplan gestanden, als mein Lesen dadurch bestimmt wurde: HEIMSUCHUNG ist großartig, vielleicht gar ein Meisterwerk, wie der SPIEGEL im Rückseitentext zitiert wird.

Auf gerade einmal 188 Seiten zurrt die Autorin unterschiedlichste Schicksale zusammen, erzählt vermeintlich von einzelnen Menschen und doch vor allem von einem Zeitalter; eindrucksvoll schlägt sie den Bogen über mehrere Generationen hinweg, zudem von einem Gutshof in Polen, auf dem die ehemalige Besitzerin nun als Dienstbotin leben muss, und einer Farm in Südafrika, hin zu jenem idyllischen märkischen See, der durch Zufall ein Dreh- und Angelpunkt wird – denn wäre die jüngste Tochter eines Großbauern heiratsfähig, hätte der Vater am Ende (s)einer Ära ihr Erbteil nicht verkauft. So ist es nun aber möglich, dass dort zuerst ein Haus gebaut wird und später weitere.

Erpenbeck erzählt von einem Architekten und seiner Frau, er ein Mitläufer, sie auf andere Art ein Produkt ihrer Zeit, und von den Erben eines vermögenden jüdischen Fabrikanten, außerdem von einer Schriftstellerin, die nur knapp den Ort ihrer Hoffnung überlebt, und einem Rotarmisten, der Rache üben will, aber der Zerstörung müde ist; es treten Republikflüchtlinge auf, ein Vergewaltiger, ein todgeweihtes Mädchen, eine in der eigenen Stille Gefangene und – man darf ihn nicht vergessen, sondern als Rückgrat der Dramaturgie preisen – der Gärtner, der morgens früh und Abends in der Dämmerung den Rasen gießt.

So wie der Gärtner, der von Irgendwo kommt und im Nirgendwo verschwinden wird, das Fortschreiten der Zeit symbolisiert, die Wiederholungen des (Weiter-)Lebens, das Aufziehen des einen und den Verlust des anderen, die Anpassung an die stetigen Veränderungen, denen wir alle unterworfen sind, bleiben auch alle anderen Personen letztendlich Figuren in dem großen Panoramakasten, in den Erpenbeck uns schauen lässt. Was möglicherweise blutleer klingt, ist es nicht: HEIMSUCHUNG ist trotz des raunenden Bildungsanspruchs auch ein gut unterhaltender, weil bewegender Roman, der nie auf die Tränendrüse drückt und in einem der furchtbarsten Momente, wenn man eigentlich nur schreien will, seiner Figur durch eine Sprachnuance noch einen winzigen Hauch von Stärke zu schenken scheint (denn für mich Leser von geringem Verstand ist es etwas anderes, ob man ermordet wird oder sich erschießen lässt).

Also durchgehend Tränen allüberall? Ja, natürlich, und nein, nicht nur. Erpenbeck webt immer wieder etwas Frühlingsabendluft in die Chronik der unaufhaltsamen Niedergänge, sei es durch die Beschreibung des Gartens oder des Sees, oder auch, wenn die eingespielte Dynamik zwischen dem Architekten und seiner Frau fast so etwas wie Wärme ausstrahlt, während sie sich und die Gäste unterhalten; gleichzeitig bietet der Text mannigfaltige Befriedigung, beispielsweise wenn besagte Frau zweimal dasselbe Sprichwort daher sagt, einmal um ihren Antisemitismus in Lässigkeit zu kleiden (Bitch …) und viele Jahre später, um unwissentlich das Schicksal ihres Mannes zu prophezeien (… Karma’s gonna get ya!).

„Sie hält für möglich, dass die Hocker zum Hochlegen der Füße erst erfunden wurden, als man begann, sich die Jahreszeiten auszusuchen“, heißt es an einer Stelle, und: „Erst hier, in dieser Zeit, in der sie jetzt für den Rest ihres Lebens zu Besuch ist.“ Wie Erpenbeck diesen hier als Beispiel dienenden Sätzen so viel über das Gestern, Heute und Morgen fassen kann, über Staunen und Unverständnis, das beeindruckt mich so, dass ich darüber vergesse, dass mir das ewig in sich Gedrehte, das ihren Erzählstil auszeichnet, gegen Ende des Buchs doch etwas auf die Nerven ging – und hätte ich die weitere Ebene, die durch die Beobachtung zweier Kinder in einem Badehaus in den Text gepresst wird, gebraucht? Vermutlich nicht … während ich aber auf das grüne Frotteehandtuch, das zum Bindeglied zwischen zwei Männern wird, die weniger vom eigenen Antrieb als vom Schicksal die Rollen des Opfers und Nutznießers zugewiesen bekommen, nicht verzichten wollen würde. Und der Epilog: I love it!

Es wird viel ausgeschieden in diesem Buch – im Todeskampf geschissen oder um die eigene Stärke zu unterstreichen (die doch nichts anderes ist als Ohnmacht), da wird in Gesichter gepinkelt und hernach ejakuliert; Erpenbeck unterstreicht so wenig elegant die Kreatürlichkeit, der wir alle unterworfen sind, ganz egal, wie gut die Bildung und teuer das Parfüm sein mag. Aber vielleicht darf man das schon als Barrierefreiheit fürs Verständnis werten? So ist auch der Titel HEIMSUCHUNG so eindeutig zweideutig, dass es – wir erinnern uns an die SchülerInnen (in Bayern: Schüler-ohne-mitgedachte-innen), die hierüber referieren müssen – nicht schwerfällt, dies alles zu dechiffrieren. Ob die Sprünge zwischen den Zeitebenen und Perspektivwechsel es ungeübten Lesenden schwer machen wird? Ich weiß es nicht. Und kann auch nur vermuten, wie Gebildetere die Frage beantworten, ob hier Sprachkunst und Geschichte immer Hand in Hand gehen, oder ob der Stil (zu) oft dominiert.

Wie nun zum Ende kommen bei einem Buch, über das ich schon viel geschrieben habe, aber gerade mal einen Bruchteil von dem, was aufzuführen wäre? „Schluss (peroratio): Im Plädoyer wird nach Erörterung aller Argumente eine Zusammenfassung gegeben, eine Meinung dargestellt und ggf. ein Ausblick auf weitere Debatten gegeben“, fasst Wikipedia zusammen, wie ein Schulaufsatz abgeschlossen werden kann. Man sehe mir nach, dass ich nun – da ich nicht auf eine gute Note hinarbeiten muss – weniger ins Detail gehe; vielleicht reicht es festzuhalten, dass HEIMSUCHUNG mein erster Roman von Jenny Erpenbeck war, aber nicht der letzte sein wird.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Jenny Erpenbeck: HEIMSUCHUNG. Eichborn Verlag, 2008 (heute: Penguin Verlag)