Richard Powers führt in seinem Roman entspannt durch so viele verschiedene Themenfelder, dass uns schwindelig werden könnte

„In klaren Nächten übertraf nichts den Himmel über einer kleinen Insel mitten im Ozean. Dieselben Sterne, die jetzt auf Didier hinunterschienen, hatten schon am Himmel gestanden, als die ersten Menschen auf die Insel gekommen waren. Dieselben Sterne in denselben Konstellationen wie zu der Zeit, als das Phosphatgestein entdeckt wurde, und als die Bergbaugesellschaft die ausgeweidete Insel aufgab und Tausende Menschen sich woanders Arbeit suchen mussten. Dieselben viertausend Sterne würden noch über dieser Insel strahlen, wenn die Menschheit in den letzten Zügen lag.“

Wann beginnt die Geschichte dieses Romans: Am 1.1.1970, wenn eine der vier Hauptfiguren geboren wird, oder 1947, als ein Vater seine Tochter in kaltes Wasser wirft? Möglicherweise auch 1896, als ein französisches Forschungsschiff auf der jüngst annektierten Pazifikinsel Makatea einen Fund machte … oder gar am Anbeginn der Zeit, als der Gott Ta’aora aus seinem sanft kreisenden Ei entsprang, die Erde schuf, die Sterne am Himmel – und vor allem die Tiefen der Meere? Die Antwort auf diese Frage mag noch eine ganz andere sein. Und das ist sowohl das Wunderbare als auch Beklemmende an DAS GROSSE SPIEL, dem neuen Roman von Richard Powers.

Der weltweit von Lesenden und Kritikern gleichermaßen gefeierte US-amerikanische Schriftsteller lässt uns lange im Unklaren darüber, welche Geschichte er erzählen möchte: Geht es um die Faszination der Tiefsee und deren Zerstörung durch den Klimawandel und andere Fahrlässigkeit der Menschen? Will er uns zeigen, dass die Kolonialisierung noch lange nicht vorbei ist, deren Weg heute aber nicht mehr mit Glasperlenketten geebnet werden, sondern mit Informationen – und es nicht Eroberer aus Europa sind, die das Unheil bringen, sondern Entwickler aus dem Silicon Valley sowie die Superreichen, die sich Freiheit jenseits demokratischer Regierungen wünschen? Oder ist DAS GROSSE SPIEL im Kern eine Freundschafts-, wahrscheinlich Liebes- und gar Dreiecksgeschichte, die zu einem Wettlauf gegen die Zeit wird?

Das sind viele – und ganz sicher nicht alle – Fragezeichen, die Powers für uns setzt. Nachdem ich das von Eva Bonné fließend ins Deutsche übertragene Buch nach 509 Seiten zuklappte, war da deswegen zunächst nur ein „Uff“ in mir, ein Druck auf Hirn und Gemüt, eine große Begeisterung … und gleichzeitig Unwillen ob einer dramaturgischen Entscheidung des Autors, die ich verdauen musste. Denn es geht neben all den oben genannten Denkanstößen auch noch um KI – und die Frage, was Unsterblichkeit, dieser Wunsch vieler Menschen seit Anbeginn der Zeit, im 21. Jahrhundert bedeuten mag.

DAS GROSSE SPIEL ist eindeutig ein Buch aus der Kategorie „Wenn du in diesem Jahr nur noch einem Roman liest, dann diesen“ – denn die Vielfalt der Themen, die Schönheit von Powers Erzählkunst und seine Begabung dafür, selbst dem Schnellvorlauf durch komplexe Sachthemen eine Süffigkeit zu geben, ist beeindruckend.

Es ist kein Buch ohne Fehl und Tadel, ganz gewiss nicht: Powers hat sich viel vorgenommen, aber es hätte sicher allein 50 Seiten mehr gebraucht, um die Dynamik zwischen dreien seiner Hauptfiguren – dem Tech-Milliardär Todd, dem Archivar Rafi und der Künstlerin Ina Aroita – so herauszuarbeiten, dass die Leerstellen gefüllt würden. Wobei gleichzeitig gerade diese Auslassungen, dieses nicht ganz konkrete Verstehen, was da zwischen(-menschlich zwischen) den Dreien vorgeht, letztendlich Teil der Gesamtaussage ist.

Stattdessen nimmt sich Powers Zeit und Raum, um auf der Insel Makatea Nebendarstellende auftreten zu lassen, die allesamt eigene Romane verdient hätten. Und noch dazu hat er mit der vierten Hauptfigur, der fast 100-jährigen frankokanadischen Taucherin Evelyne Beaulieu, die unangepassteste und wunderbarste Protagonistin geschaffen seit Elizabeth Zott aus EINE FRAGE DER CHEMIE. Ihr lebenslanger Kampf gegen die Männerwelt lässt uns ebenso das Herz aufgehen wie Powers‘ Beschreibungen der Unterwasserwelt, die von einer so opulenten Schönheit sind, dass ich mich (fernab jeglichen Interesses, jemals einen Tauchkurs zu machen) dabei ertappte, in meinen Gedanken mit einem Riesenmanta zu tanzen.

Man könnte noch so vieles erwähnen, was dieses Buch groß und donnernd macht, auch wenn Powers keine Fanfaren braucht, um den Blick auf zahlreiche Missstände zu lenken – von Klassismus und Rassismus über körperliche und psychische Gewalt in der Familie bis zu den Abgründen menschlichen Verhaltens ist alles dabei. Ich bin begeistert davon, kann mir aber vorstellen, dass es für andere Lesende vielleicht zu viele Themen sind. Und ist es vielleicht auch ein wenig zu offensichtlich, wie der Autor die Zerstörung der Meere spiegelt, indem er einfließen lässt, wie verheerend Menschen auch in einem anderen zunächst unschuldigen „Biotop“ wüten, dem Internet?

Darüber kann man sicher so unterschiedlicher Meinung sein wie zum Beispiel über die Frage, ob das wunderschöne Bild der Beziehung zwischen Knallkrebsen und Grundeln (richtiger ausgedrückt: der Symbiose zwischen einigen Arten) vielleicht zu didaktisch, weil nah, an eine Stelle gesetzt wurde, an der Powers es braucht, um uns Tränen in die Augen zu treiben. Aber … und das sage ich nur, wenn ich es so empfinde: Lasst mich in Ruhe mit kritischem Hinterfragen! DAS GROSSE SPIEL ist ein Roman, den man einfach nur genießen möchte, ganz langsam schlürfend und mit großen Bissen zugleich.

Und das Ende. Nun. Puh. Ja, also. Das Ende … verrate ich natürlich nicht. In gewisser Weise tut der Autor es auch nicht. Denn eine der großen Fragen dieses Romans ist, wie eingangs erwähnt, wann die Geschichte beginnt, die Powers so meisterlich erzählt – UND wann sie zuende geht, und wie. Nur so viel: Ich glaube – ich befürchte –, dass Powers Roman schon in fünf Jahren hoffnungslos überholt sein wird. Und gleichzeitig hoffe ich, dass er dann trotzdem noch seine Bedeutung hat, als Denkanstoß, als Warnung und als meisterhaftes Lesevergnügen.

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Ich habe dieses Buch von der Kollegin einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet – vermutlich war es also ein Rezensionsexemplar durch die Hintertür; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Richard Powers: DAS GROSSE SPIEL. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin Verlag, 2024