Ein norwegischer Oberarm hat einen Roman geschrieben und jungmannt sich in mein Herz

„manche sachen erzählt man niemandem, zum beispiel, dass du manchmal an der haltestelle stehst und das donnern im tunnel hörst, dann machst du einen schritt zurück, spannst den körper hältst die luft an, und wenn die bahn vorbei ist und du immer noch da stehst, fragst du dich ob du dich irgendwann traust zu fliegen“

1967 veröffentlichte die neunzehnjährige US-Amerikanerin Susan E. Hinton ihren Roman „The Outsiders“ über zwei Jugendgangs, der zum internationalen Erfolg und von Francis Ford Coppola verfilmt wurde. Man darf annehmen, dass die Geschichte von Ponyboy und Sodapop, in der Hinton eigene Erfahrungen verarbeitet haben soll, auch ein Echo des James-Dean-Mythos ist: Sensible Jungmänner, die als Außenseiter an der Gesellschaft zerbrechen und rebellisch auf die schiefe Bahn geraten. Wir alle kennen diese Geschichten, in die sich auch der 1978 erschienene Roman „The Basketball Diaries“ einreihen lässt, 1995 unter dem Titel „Jim Carroll – In den Straßen von New York“ mit dem jungen Leonardo DiCaprio verfilmt. Und sicher erinnern wir uns alle an „Trainspotting“, wobei Irvin Welsh bereits 34 war, als das Buch 1993 erschien.

2023 veröffentlichte der damals zwanzigjährige Oliver Lovrenski in Norwegen seinen zweiten Roman, der nun in Deutschland unter dem Titel BRUDER, WENN WIR NICHT FAMILY SIND, WER DANN veröffentlicht wurde. Lovrenski erzählt die Geschichte von Ivor, der als Kind davon geträumt hat, Anwalt zu werden, der gut in der Schule war, aber aus der Bahn geworfen wird – vom Tod seiner Großmutter, von den Hürden, vor denen er als Kind kroatischer Eltern steht … und vielleicht auch von seinem Freunden? Nun zieht er mit Marco, Jonas und Arjan durch die Straßen des Osloer Stadtrands; sie nehmen Drogen und verkaufen noch mehr davon, sie klauen, prügeln und geben sich als harte Macker, was man ihnen vielleicht sogar abnehmen würde, wenn man nicht wüsste, dass sie erst 17 sind … und glücklich, wenn sie bei Jonas‘ Oma Waffeln essen und Kniffel spielen dürfen.

ZU VIEL POSE … ODER GENAU RICHTIG?

Auf seinem Autorenbild zeigt sich Lovrenski mit zurückgegelten Haaren und Bartflaum, den mit einer Spielkarte tätowierten Oberarm gut in Szene gesetzt, ein bisschen „Cry Baby“ aus dem gleichnamigen John-Waters-Film, ein bisschen Post-Pubertierist, den man sich auf dem Laufsteg der Mailänder Modewoche ebenso vorstellen kann wie in einer Doku über verlorene Generationen. Und dann hat er sein Werk über jugendliche Delinquenten angeblich auch noch teilweise auf dem Handy geschrieben … Ich war skeptisch, als ich das Buch zur Hand nahm – alles zu viel Pose, oder?

Aber dann hat mich BRUDER, WENN WIR NICHT FAMILY SIND, WER DANN wirklich gepackt. Die Kapitel sind kurz, selten länger als eine halbe Seite; es sind Momentaufnahmen, gespickt mit Slang und sparsam mit Satzzeichen, komplett abgeklärt und doch maximal in der Wucht, mit der uns Lovrenski diese Geschichte … nein, nicht entgegenrotzt; das könnte man denken, soll man auch. Aber die 246 spärlich bedruckten Seiten erzählen unter der Sie-wissen-nicht-was-sie-tun-Oberfläche vor allem eine sensible und zu Herzen gehende Geschichte.

„wir ballern uns ja eh die birnen zu, aber zusammen passen wir wenigstens aufeinander auf“ heißt es an einer Stelle des von Karoline Hippe übersetzten Romans, und an einer anderen: „ayla hat mal gesagt, was du erinnerungen nennst sind traumata“. Beides kann man als Eckpunkte dieses Tanzes am Rande des Vulkans sehen, bei dem die drohende Überdosis zum ständigen Begleiter wird – und nicht alle Freunde das Ende der Geschichte erleben werden. (Ein Tod übrigens, der mich wirklich traurig gemacht hat.)

Frauen sind namenlose „chayas“, die erste Stichwunde ist eine „Straßenkonfirmation“, und wer zuerst zuschlägt, lacht auch danach noch: Lovrenski wirft sein Publikum mitten hinein in einen Strudel aus Hoffnungslosigkeit, ohne uns ertrinken zu lassen. Er wertet nicht, er warnt nicht, er hebt nie den Zeigefinger, sondern lässt seine Protagonisten abgefuckt und gewaltbereit sein, ohne sich damit aufzuhalten, komplexe sozialpolitische oder kulturelle Verstrickungen aufzuzeigen (wobei es einen absurden Witz hat, dass der zur Gewalt neigende Marco keine Musik hört, weil das nach seinen somalisch-muslimischen Wurzeln „haram“ ist, er sich aber für die Audiofassung von „Bridget Jones‘ Tagebuch“ begeistert). Und doch hat Lovrenski kein Buch für „Alpha-Dudes“ geschrieben, die eine toxische Maskulinität verherrlichen, keine Wichsvorlage für Menschen, die sich nach einem „Living on the edge“ sehnen. Und das Ende? Kann man auf zwei Arten lesen. Aber … ihr wisst schon … die Hoffnung stirbt zuletzt.

LESEN, LESEN, LESEN!

Hört sich das gut an? Vermutlich werden viele von euch den Kopf schütteln; ich kann das verstehen. Und rate trotzdem dazu, sich auf den laminierten Pappband einzulassen, dessen Motiv schon viel erzählt mit dem Goldkettchen und dem Auge, das fast wie das eines Neugeborenen wirkt. BRUDER, WENN WIR NICHT FAMILY SIND, WER DANN schafft es, gleichzeitig Boxhieb zu sein, dem wir ausweichen müssen, und Umarmung, mit der wir Ivor und seine Freunde vor dem nächsten Fehler schützen wollen.

Kann ein solcher Roman in unserer übersättigten, von immer neuen Serien und Büchern gefluteten Welt noch so ein Erfolg werden wie vor fast sechs Jahrzehnten „The Outsider“? Vielleicht nicht. Aber zu gönnen wäre es ihm.

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Ich habe das Rezensionsexemplar dieses Buchs von einer befreundeten Buchhändlerin in die Hand gedrückt bekommen; es handelt sich bei dieser Rezension nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Oliver Lovrenski: bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann. Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe. Hanser Berlin Verlag, 2025

Copryright für das Autorenfoto © Jarli Jordan