Super Umschlag & moderne Unterhaltung, aber leider wuchert die Geschichte für mich zu wild … oder zu wenig?
„Ich muss mir neue Kriterien dafür überlegen, wann man nicht mehr kann. Weil ich lieg ja schon, umfallen geht also nicht. Und mit dem Ende irgendwelcher körperlichen Kräfte hat das auch nichts zu tun. Eher mit dem Ende des Verstands.“
Zwei Cousinen, sie höchst unterschiedlich wirken, eine einsame Berghütte und ein Erzählstil, der so mitreißend ist, dass man durch die 205 Seiten fliegt – das klingt super, das ist es auch … aber leider hat mir WILD WUCHERN von Katharina Köller trotz der unbestreitbaren Qualität nicht gefallen. Warum? Dafür muss ich ausholen, und das geht nicht ohne SPOILER.
Marie und Johanna sind Cousinen, ihre Mütter Schwestern, die sich gegenseitig mit dem eigenen Leid zu überbieten suchen. Während Marie den Erwartungen aller entspricht (so hübsch, so blond, so alltagstauglich), ist Johanna immer schon anders: Das Haar hat nicht die richtige Farbe, sprechen will das verstockte Kind auch nicht, und überhaupt ist dieses Mädchen eine einzige Enttäuschung, auch und weil (also wirklich: WEIL) ihr verstorbener Bruder doch sicher ein strahlender Glückfall für die Familie geworden wäre.
Und nun, nach vielen Jahren des Schweigens zwischen ihnen, hastet Marie fern ihres Wiener Stadtlebens in Tirol bergauf, um in einer einsamen Hütte Zuflucht zu suchen. Hierhin hat Johanna sich nach dem Schulabschluss zurückgezogen, um erst bei ihrem geliebten Großvater zu leben und seit seinem Tod das Leben einer Eremitin zu führen. Dass Marie auf der Flucht sein muss, ist klar; dass sie befürchtet, ihren fiesen Ehemann ermordet zu haben, wird mit der Subtilität eines Holzhammers in die Geschichte gedroschen (bei der Tatwaffe handelt es sich übrigens um eine Kristallvase, was ich eine hübsche Idee finde, aber das nur am Rande). Und Johanna? Die ist kurz besorgt, dann schnell genervt – und schmeißt ihre Cousine schließlich raus. Was allerdings nicht bedeutet, dass diese geht. Zumal es da noch ein dräuendes Geheimnis gibt, das sie seit Jahrzehnten hütet …
VIEL LICHT, VIEL SCHATTEN – UND ZU VIEL FARBE
Ich kann gut verstehen, warum man bei Penguin überzeugt von diesem Text ist und warum viele Leserinnen hingerissen sind von WILD WUCHERN: Katharina Köller scheucht uns druckvoll durch die Handlung, ihre beiden Hauptfiguren bieten mannigfaltige Gründe, sie sympathisch zu finden – oder sich gar mit ihnen zu identifizieren –, und die archaische Lebensweise jenseits der Waldgrenze wird zwar nicht verklärt, hat aber trotz Ziegenduft und Mäusegetrippel eine gewisse Manufactum-Katalog-igkeit; vom Leben ohne Chi-Chi lässt sich schließlich vortrefflich träumen, wenn man fließend warmes Wasser und eine Kaffeemaschine hat. Mein Zwischenfazit: Ich neige das Haupt vor der Autorin, denn einen so gleichermaßen brachialen und empfindsamen Tonfall muss man erst einmal hinbekommen. Nur hat Katharina Köller dabei meiner Meinung nach das Feintuning ihrer Figuren vergessen und verlässt sich auf Effekte.
Als Leser von geringem Verstand empfinde ich Marie und Johanna beide als überzeichnet, und das sowohl in der Gegenwart als auch der Vergangenheit. Nun kann man natürlich sagen: Ja, klaro, das sollen zwei Extremfiguren sein, daraus ergibt sich doch die Energie des Textes; ich fand das Hochdrehen sämtlicher Farben, der hellen wie der dunklen, aber vor allem als ermüdend.
Es ist folgerichtig, dass Marie, die dazu erzogen wurde, als People Pleaserin nicht anzuecken, ihre Karriere in der Modebranche aufgibt – aber ist nachvollziehbar, dass sie den intensiven sprachliche Missbrauch durch ihren Mann so lange aushält? Und dass ihr dann auch noch ein hohes Gewaltpotential in ihrer Kindheit angedichtet wird, scheint mir doch vor allem dem Wunsch nach einem Paukenschlag geschuldet zu sein.
Und Johannas Entwicklung? Für mich bleibt offen, ob der Wunsch nach Rückzug aus der Welt nun Veranlagung ist oder eine Reaktion auf die Vernachlässigung durch die Eltern, vor der sie sich in die Liebe zu den Familienhunden flüchtet, was für alle Beteiligten unschön endet. Wer von dieser Geschichte nicht berührt ist, hat kein Herz; trotzdem komme ich nicht umhin, mir die Frage zu stellen, ob das zu viel Emotions-Simsalabim ist.
Ein Gewitter, das sich sowohl in der Handlung als auch im Bergpanorama deutlich ankündigt (von Marie aber, zielorientiert dem Höhepunkt der Geschichte entgegensteuernd, ignoriert wird), führt schließlich zum Wendepunkt – und hernach löst sich alles in Wohlgefallen auf: Marie hat vermutlich doch nicht fest genug zugeschlagen, Johanna sträubt sich nicht mehr dagegen, dass man gemeinsam weniger allein ist, und … das war es dann auch schon. „Ich hab mich selbst aus meinem Blumentopf gerissen“, erkennt Marie, „und begonnen, wild zu wuchern.“ Als wäre das nicht schon Hurray-Hurray genug, ist auch noch der Himmel so hoch und so schön, da oben auf dem Berg. What’s not to love?
ALLES RICHTIG GEMACHT?
Eine der aktuell drängendsten Fragen der Verlagsbranche ist, welche Art von Unterhaltung man für Leserinnen im Programm haben sollte, die der Formelhaftigkeit der trope-getriebenen New Adult-Romances entwachsen. Ein Buch wie WILD WUCHERN kann sicher Teil der Antwort sein: Der Roman lässt sich schnell lesen, drückt emotionale Knöpfe, ohne durch allzu große Überraschungen für Nachtschlaf-gefährdende Aufregung zu sorgen, und hakt verlässlich wichtige Themen ab; so darf auch ein Exhibitionisten-Penis nicht fehlen, um die Allgegenwart patriarchal geprägter Gewalt (zurecht!) zu kritisieren. Dazu die ausgesprochen gelungene Gestaltung des Schutzumschlags – sicher eine der plakativsten Optiken in diesem Frühjahr, und ich nehme an, wir werden die Gemälde von Sarah Lavelle ab jetzt auf vielen Büchern sehen –, fertig ist ein Produkt, von dem ich überzeugt bin, dass es auch Heilmittel gegen Lesemüdigkeit funktioniert. Darum: ALLES RICHTIG GEMACHT.
Trotzdem (oder gerade deswegen, wer weiß das schon) bin ich ein bisschen traurig, dass Katharina Köller mich nur eingeschränkt abgeholt hat. Ich freue mich über – und für – alle, die das anders empfunden haben.
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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Katharina Köller: WILD WUCHERN. Penguin, 2025
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