Weil das Leben nicht endet, wenn das früher Unaussprechliche passiert – ein kluges Buch über das Weitermachen und Neuentdecken 

„Es sind besonders die feinen, kaum sichtbaren Seelengravuren, die über Jahrzehnte konstanten Muster des Begehrens, der Identitätsbildung und der Bindungsfähigkeit, denen Aufmerksamkeit gebührt. Folgt man ihnen, folge ich ihnen, zu welchen Verhaltenseigenheiten, Bewältigungsstrategien und Anpassungsleistungen führen sie mich? Es ist eine ungewisse Mission, diesen Fragen nachzugehen, namentlich eine, die reflektieren muss, dass Spurenlesen auch auf falsche Fährten führen kann.“ 

Das Mädchen freut sich, aber es ist auch nervös: Der Nachhilfelehrer ist da, Untermieter im Haus und Freund der Mutter. Ein Mann, der dieser Kleinen das Gefühl gibt, etwas ganz Besonderes zu sein, auch wenn sie beim Schreiben immer Tintenklecks macht. Aber das Mädchen sieht auch, dass er sich die Nägel nicht geschnitten hat. Und das bedeutet, dass es weh tun wird, wenn er gleich seine Finger in sie schiebt … 

Fast ein ganzes Leben später schreibt Helene Bracht, wie die Psychologin Mechthild Erpenbeck ihr literarisches Alter Ego nennt, diese Zeilen in einem lärmenden Ferienparadies, in dem die Animateure ihre Gäste mit einen Remix von „Sweet dreams are made of this“ zum Sport verführen wollen – und die Erzählerin antreiben, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Eine Geschichte, die mit Missbrauch beginnt, der sie nicht zerstört, aber etwas in ihr … nein, vielleicht nicht zerbricht; Helene Bracht ist kein Mensch, der diese Art von „Behinderung“ für sich annehmen würde. Die Gewalterfahrung, die nicht beim Vergewaltiger aufhört, sondern sich durch das Verhalten der Eltern fortsetzt, lenkt Bracht vielmehr auf einen Lebensweg, der geprägt ist vom Drang zur Anpassung und zum Gefallenwollen. Der sie immer wieder zum Opfer von Situationen macht, aber auch selbst zur Täterin. Und am Ende? Singt noch einmal Annie Lennox: „Hold your head up, movin’ on.” 

DAS LIEBEN DANACH entzieht sich einer einfachen Einordnung; es ist Autofiktion, es ist ein Essay, es ist eine literarische Standortbestimmung und ein Buch, das aufrüttelt, weil es wütend macht, nachdenklich, traurig … und „hoffnungsvoll“ setze ich nun nicht nur, weil es hübsch passt, sondern weil ich es so empfunden habe, vor allem – aber nicht erst – auf Seite 179. Und: Es ist ein Werk (das man eigentlich in Großbuchstaben schreiben kann, WERK, jawohl), das für Menschen ohne Missbrauchserfahrung viele Fenster öffnet.  

WIEVIEL AUTOFIKTIONALITÄT ERLAUBT EIN SACHBUCH?

Nicht alles ist meiner Meinung nach gelungen: Die Nebensächlichkeit, mit der die Mutter der erwachsenen Tochter etwas Schockierendes anvertraut (und die fehlende Auseinandersetzung damit), das komplette Ausblenden eines Lebensabschnitts und eines Menschen, der darin Bedeutung hatte – das wäre mir für einen Roman zu konstruiert … und wirkt in einem Tatsachenbericht nicht anders. Hat mich noch dazu die Analyse im Mittelteil manchmal ermüdet? Ja, auch. 

Aber: Das ist nebensächlich. Denn DAS LIEBEN DANACH ist viel mehr als die Summe der Lebensstationen, von denen Helene Bracht erzählt, wichtiger als die zitierten Studien und Bücher (wobei man nicht versteht, warum der Verlag die Fußnoten ans Ende des Buchs verbannt und ein ablenkendes Geblätter provoziert). DAS LEBEN DANACH ist ein Ausrufezeichen, elegant durch seine Lakonie, bewegend sowohl durch die Themen als auch durch die Unsentimentalität, mit der hier eine schlaue Erzählerin zurückschaut und reflektiert. Nicht nur auf sich selbst: „Schroffe Gehässigkeit gepaart mit verborgenem Mitgefühl“, heißt es zum Beispiel an einer Stelle über das Verhalten ihrer Mutter gegenüber einer ›gefallenen‹ Frau, „eine Gefühlsverrenkung, die Generationen von Frauen im Blick auf ihre Geschlechtsgenossinnen bravourös beherrschen.“ Und doch ist da kein erhobener Zeigefinger, keine Anklage; die Feststellung reicht, um uns zum Innehalten zu bringen … und hoffentlich zur Kurskorrektur. 

BERECHTIGTES LOB VON ALLEN SEITEN

Gabriele von Arnim und Elke Heidenreich, die das gerade einmal 187 Seiten umfassende Buch auf dem Umschlag loben, geben die Tonart und Zielgruppe vor; die wunderbare Maria Christina Piwowarski (komma Literaturvermittlerin) ergänzt im Podcast blauschwarzberlin Annie Ernaux und Daniel Schreiber. Für mich gesellte sich eins meiner Lesehighlights des letzten Jahres hinzu, SEINETWEGEN von Zora del Buono. „Dieses Buch ist eine radikale Erfahrung“, wird von Arnim zitiert, und dem kann ich mich begeistert (und ein bisschen ehrfürchtig) anschließen.  

Habe ich beim Lesen manchmal eine Limitierung gefühlt, kann ich als Mann und Mensch ohne so geartete (Gewalt-)Erfahrung all das, was die Autorin schreibt oder als Leerstelle in den Text bringt, gänzlich einordnen und verstehen? Ich bin nicht sicher, tendiere zu „Ja“. Gerade deswegen finde ich, dass man Helene Bracht für dieses Protokoll der Selbstwerdung – von der Anklage bis zur Versöhnung – dankbar sein kann. „Es braucht ein ganzes Leben, um einen solchen Text zu schreiben“, steht im Rückseitentext und bindet dies mit einem Punkt ab; ich setze nach dem ersten Ausrufezeichen, das diese Aussage verdient, noch verwegen zwei weitere. 

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Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten; dies hat keinen Einfluss auf meine inhaltliche Bewertung. Es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.  

Helene Bracht: DAS LIEBEN DANACH. Carl Hanser Verlag, 2025.