Wie landet eine Frau in einer toxischen Beziehung – und wie „unschuldig“ ist sie? Ein beeindruckendes Debüt!

„Ich war so gerne wunderschön und glatt und ordentlich. War ich aber allein und unbeobachtet, kratzte und juckte ich mich überall, ich fummelte und bohrte an mir, in mir herum und machte komische Geräusche. Ich fühlte mich wie ein Höhlenmensch. Ich dachte, irgendetwas stimmt nicht mit mir. Mädchen sind sauber und schön, nur ich war eine widerliche Ausnahme, und er hatte das herausgefunden, obwohl ich mich so zusammengerissen hatte, mir solche Mühe gegeben hatte, es vor ihm zu verbergen.“

Eigentlich sollte Jella für ihr Studium lernen. Oder mit ihren Freundinnen Kaffee trinken. Vielleicht sollte sie auch zuhause sein und Yannick seinen Lieblingssalat machen, dem Mann, mit dem sie erst vor kurzem zusammengezogen ist. Aber stattdessen wartet Jella bei der Polizei darauf, eine Aussage zu machen – denn Yannick hat ihr in den Bauch geboxt, er hat sie gewürgt, sie mit wütenden „Ich bringe dich um“-Schreien verfolgt, als sie in Todesangst aus dem Haus gerannt ist.

Ruth-Maria Thomas erzählt auf 266 Seiten schnörkellos, eindringlich und brutal von einer toxischen Beziehung, in der zwei verletzte Seelen Halt suchen und sich gegenseitig in Richtung Abgrund treiben. Dabei beschränkt sie sich nicht auf ein einfaches Opfernarrativ: Jella trägt keine Schuld an dem, was ihr geschieht, natürlich nicht, aber sie ist trotzdem Täterin. Und so geht es in DIE SCHÖNSTE VERSION auch weniger darum, warum Yannick die Beherrschung verliert, sondern lässt uns verstehen, warum Jella in so eine Situation geraten konnte.

Zugegeben, ich habe nach den ersten Kapiteln kurz mit dem Roman gehadert und mich gefragt, ob hier die „neue Lust am Prekariat“ bedient wird für ein Publikum, das sich nach einer Bio-Avocado-Bowl ein wenig gruseln möchte; zwischenzeitlich hatte ich gar den Eindruck, in der literarischen Antwort auf einen Dark-Romance-Genreroman gelandet zu sein. Vielleicht zeigt das nur meine Unwissenheit, vielleicht habe ich diese Vorbehalte sogar wie ein Schutzschild vor mir hergetragen, weil das Ausmaß des widerlichen männlichen Anspruchsdenkens wirklich schwer zu ertragen war:

Der Zwanzigjährige, der es normal findet, einem Mädchen von 15 Jahren in den Mund zu ejakulieren; der coole Musiker, der eine Vergewaltigung nicht für einen Grund hält, „Drama“ zu machen; der erwachsene Mann, der seine eigenen Komplexe hinter Passiv-Aggressivität zu verbergen sucht. Die einen wollen in Jella das wilde Ding sehen, an dem sie sich nach Lust und Laune bedienen können, während sie für den anderen dezent geschminkt und zurückhaltend gekleidet sein soll, eine moderne Eliza Doolittle, die an seiner Seite aufblühen und neue Dinge entdecken darf. (Bei mir indes regte sich die Erinnerung an Helen Memel, die Hauptfigur in Charlotte Roches FEUCHTGEBIETE, wenn auch ohne deren starke Überzeichnung.)

Wer Jella wirklich ist? Das hat sich mir Leser von geringem Verstand nicht erschlossen, aber vielleicht tut das nichts zur Sache, denn vermutlich weiß es die junge Frau, die beständig zwischen Selbstdestruktion und Hoffnung schwankt, selbst (noch) nicht. Daher kann ich DIE SCHÖNSTE VERSION auch nicht, wie ich an anderer Stelle las, als „Coming of Age“-Roman begreifen, denn echte Schritte zum Erwachsenwerden geht die Protagonistin erst am Ende dieses in Rückblicken erzählten, unaufhaltsamen Countdowns zu einem gewaltvollen Höhepunkt und dessen Nachbeben.

Während ich den Roman las, habe ich die erste Staffel der TV-Serie THE MORNING SHOW gesehen, in deren Mittelpunkt neben dem Me-Too-Fall auch die Frage nach weiblicher Solidarität gestellt und thematisiert wird, dass eine Konstellation, die für viele Frauen zum Albtraum wird, für andere durchaus Teil der eigenen sexuellen Selbstbestimmung sein kann. Nun bin ich, wie vorher erwähnt, ein Mann, also habe ich viele Erfahrungen nie machen müssen. Aber es hat mich umso mehr durchgerüttelt, wie viele Freundinnen, mit denen ich in den letzten Tagen über das Thema der „männlichen“ Rücksichtslosigkeit gesprochen habe, die im Roman allgegenwärtig ist, diese als real und als „normal“ – im Sinn von „alltäglich“ – eingeordnet haben.

DIE SCHÖNSTE VERSION hat mich also durch die Geschichte gefordert – und noch dazu durch die Erzählart begeistert. Die nüchterne, aber nicht neutrale Auflistung der Dinge, die Jella am Anfang in ihre Tasche stopft – das kleine Schwarze, natürlich, aber drei Unterhosen, die reichen doch bestimmt –, das zunehmend betrunkene Hineinschlittern in eine aussichtslose Situation am Ende einer ausgelassenen Party, das Hadern um den richtigen Whatsapp-Text an eine Freundin, die kleinen Glücksmomente (Frau Matthis und ihre Käffchen!): All diese Details zeichnen das nie aufdringliche, aber gerade dadurch so überzeugende Bild einer Frau, die viel mehr mit dem an einer Stelle zitierten PANTHER von Rilke gemein haben wird, als ihr selbst zu diesem Zeitpunkt bewusst sein kann: „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.“

Warum ein solches Buch lesen? Ganz sicher nicht zur sommerlichen Erbauung … DIE SCHÖNSTE VERSION wird, so ist es zu befürchten, vielen Frauen aus der Seele sprechen und kann, soll, muss bitte genau so viele Männer dazu bringen, sich stärker mit diesem Thema und den Erfahrungen der Frauen in ihrem Umfeld auseinanderzusetzen. Ein wichtiges Buch, ein gutes Buch? Ja. Ein schönes Buch? Inhaltlich natürlich nicht – optisch dagegen sehr: Ich finde es faszinierend, wie das Designbüro Lübbeke, Naumann, Toben hier eine Stimmung eingefangen hat, eine Visualisierung für Verletzlichkeit, Hoffnung, vielleicht auch Gewalt und Widerstand anbietet, wie hier „Big Picture“ und Detailaufnahme zugleich verdeutlicht werden. Und abgerundet wird dies durch die höchst gelungene Auswahl des Umschlagpapiers und der Veredlung.

Was also bleibt? Ich will, gerade bei so einem Buch, auf keinen Fall Marcel Reich-Ranicki zitieren, aber Brecht bietet sich einfach sehr an: „So sehen wir betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Wenn ein Buch das schafft und mich gleichzeitig doch befriedigt zurücklässt, dann braucht’s eigentlich nur ein Wort: Applaus!

Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Ruth-Maria Thomas: DIE SCHÖNSTE VERSION. Rowohlt Verlag, 2024