Für viele ein Fest, für mich leider eher nicht
„So war es in unserer Kindheit, denke ich, ewig streitende Eltern, die böse Nadja, mein Lispeln und die Diskusfische, von denen ich nie recht wusste, ob sie vor Entsetzen über uns verstummt waren oder ob sie es einfach bevorzugten, ruhig zu bleiben, während wir langsam durchdrehten.“
Die Mutter ist lange tot – jedenfalls gehen alle davon aus –, der Vater nun auch, also ist es an Rosa Jeruscher, die Wohnung ihrer Eltern aufzulösen. Aber warum muss sie sich dieser Aufgabe allein stellen? Schließlich hat sie eine ältere Schwester, und die könnte sich doch eigentlich auch mal kümmern, oder? Mit einem Fünfmarkstück aus dem ehemals geheimen Versteck ihrer Mutter bewaffnet, macht sich Rosa auf den Weg zu Nadja, aber auch mitten hinein in die Erinnerungen an ihre gemeinsame Familiengeschichte …
Wenn ich NOCHMAL VON VORNE, den zweiten Roman der Münchner Autorin Dana von Suffrin, so zusammenfasse, bekomme ich sofort Lust, ihn zu lesen – und bin umso enttäuschter, wenn mir einfällt, dass ich das bereits getan habe, leider mit wenig Vergnügen. Dabei schlägt mein Herz für kratzbürstige ProtagonistInnen, wenn sie das Herz am rechten Fleck tragen. Die Figuren, die sich bei Dana von Suffrin umkreisen und belauern, haben in meiner Wahrnehmung aber weder einen Puls noch einen Charakter, bei dem mehr als die oberste Definitionsebene erkennbar wäre: Man ist garstig zueinander, man leidet aneinander, und das hat viel mit vererbten Traumata zu tun, mit den Schatten des Holocausts, der Rebellion gegen jedwede Elterngeneration und den handelsüblichen Fallstricken, die eine Familie haben kann.
Es gibt großartige Momente in diesem Buch, etwa wenn bei einem stürmischen Abgang von Rosas Mutter deren Pferdeschwanz zum Fascinator wird und ihre Jeansjacke zum Bouclékostüm, oder wenn Nadja ihre jüdische Großmutter im Pflegeheim anruft und offen bleibt, ob dies ein Akt der Grausamkeit ist oder des Mitgefühls; ebenjene Nadja ist es dann auch, die sich die verschiedensten alternativen Familien zusammenfantasiert, in denen ihre Schwester nie eine Rolle spielt … und manchmal morgens zur Überraschung ihrer Familie mit einer anderen Haarfarbe aufwacht, so unterschiedlich kann ihr Charakter von einem auf den anderen Tag sein. Dabei handelt es sich nicht um magischen Realismus, sondern nur um eine minimale Verschiebung der Wahrnehmung, wie sie typisch ist für Erinnerungen einer möglicherweise nicht ganz vertrauenswürdigen Ich-Erzählerin; deswegen fällt auch nicht ins Gewicht, dass das Englisch der Mutter auf Seite 115 als „frech, aber fehlerhaft“ charakterisiert wird – und 13 Seiten später als nahezu perfekt.
In Verbindung mit dem von der Romanhandlung gänzlich losgelösten letzten Kapitel, stellt sich die Frage: Bezieht sich der Titel NOCHMAL VON VORNE darauf, dass Rosa einmal mehr über ihre Familie nachdenken muss … oder ist es der augenzwinkernde Hinweis der Autorin, dass sie hier die Geschichte ihres Debütromans OTTO durchs Kaleidoskop betrachtet, die Versuchsanordnung beibehält, aber die Ausgestaltung ändert? Die Antwort darauf kann man, so wie die „Tough Love“ der Figuren zueinander und den vielgelobten Witz der Autorin, bei Bedarf vermutlich zwischen den Zeilen finden – für mich Leser von geringem Verstand ist das alles dort aber zu sorgsam verborgen worden.
Trotzdem gibt es auf den 235 Seiten wenige echte Ärgernisse, auch wenn ich Sätze wie „Es gibt nichts, was mich auf der Welt mehr rühren könnte als die heißen vergeblichen Tränen der Alten.“ ebenso fragwürdig finde wie diese Einlassung: „Es ist in jeder Kindheitsbiographie das Größte, den Vater beim Weinen zu erwischen […]. Der Vater wird so klein wie eine Erdbeere, so süß und weich und nass. Man hat Lust, den Vater mit der Fingerspitze anzustupsen, und ist neugierig, ob er sofort zerbirst oder sich in eine rote Lache verwandelt.“ Aha … Was übrigens so selten bleibt wie inhaltliche Ärgernisse sind Punkte; die Bandwurmsätze der Autorin machen auf mich manchmal den Eindruck, dass hier einfach willkürlich mit Kommas statt Satzenden gearbeitet wurde.
Ich hätte dem Buch – und mir als verwöhntem Konsumenten – mehr Einblicke in das Leben von Nadja, ihrem sexy Schwerenöter-Onkel und einen Auftritt von Herrn Ründiger gewünscht, denn in denen stecken sicher zwei, drei, viele Geschichten.
Was bleibt? Das etwas traurige Gefühl, dass ich nicht der richtige Leser für diesen Roman war, auf den ich mich sehr gefreut hatte, nachdem ich die Autorin in einer Kultursendung (Aspekte? Capriccio?) sehr sympathisch fand. Aber ganz versöhnlich und als Abschiedswinkewinke bleibt für mich von NOCHMAL VON VORNE der eine von Dana von Suffrin zu Papier gebrachte Gedanke, der mich nachhaltig beeindruckt: „Vom Tod aus betrachtet ist das Leben eine Aneinanderreihung letzter Male.“
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Dana von Suffrin: NOCHMAL VON VORNE. Kiepenheuer & Witsch, 2024
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