Hauchnah am Rand einer Torture-Porn-Ballade vorbeibalancierend ist MIR DIR, DA MÖCHTE ICH IM HIMMEL KAFFEE TRINKEN von Sarah Lorenz eins der verblüffendsten Lesehighlights des Frühjahrs 2025.

„Ach, was bin ich reflektiert, nicht wahr? Haben meine Therapeut*innen auch immer gesagt, wie reflektiert ich doch sei. Hat allerdings nur bedingt geholfen, die Angst ist trotzdem immer geblieben. Sowas Aufdringliches. Ich habe wirklich eine große Schnauze, braucht man bei meiner Biografie, doch die Angst ist resistent gegen meine Wehrhaftigkeit. Die bleibt, obwohl ich niemanden weniger an meiner Seite wissen möchte.“

Und da ist sie nun, diese junge Frau, die das Grab der Dichterin Mascha Kaléko besucht, weil deren Texte für sie Resonanzboden und Hoffnungsschimmer sind: Elisa hat alle Abscheulichkeiten erlebt, die man sich vorstellen kann – eine Mutter, die sich vor dem Leben (und ihrer Tochter) in Gefühlskälte flüchtet, ein Vater, der es nicht schafft, wichtige Entscheidungen zu treffen, unfähige Therapeut*innen und Männer, die sich zwar als Teil des Anti-Establishments verstehen, aber wohl fühlen in einem patriarchalen Denkmuster, das die Körper heranwachsender Frauen auf „Primärfunktionen“ reduziert. Und die größte Bedrohung? Ist wahrscheinlich eine andere – denn Elisa, deren Angst leider nur in den falschen Momenten in Wut umschlägt, kann diese dann nur aus sich hinausbrüllen und -treten und -schlagen; eine Systemsprengerin, deren Explosionskraft sie selbst auseinanderreißt.

Klingt wenig beschwingt? Trotzdem ist diese Frau, der wir am Anfang des Romans beim Grab der Dichterin begegnen, kein Opfer – sondern eine Überlebenskünstlerin am vorläufigen Ende ihrer Heldinnenreise, die von sich selbst sagt:

„Meine tiefste Überzeugung ist jene, dass es sich immer lohnt, Hoffnung zu haben.“

Die Hauptfigur von MIT DIR, DA MÖCHTE ICH KAFFEE TRINKEN IM HIMMEL erlebt Krasses – aber ist die Autorin Sarah Lorenz möglicherweise krasser?

Und da ist sie nun auch, diese andere junge Frau, eine Autorin, die viele von uns unter ihrem lustigen Instagram-Namen kennen: Sarah Lorenz alias Buchischnubbel lässt uns jeden Tag an ihren Ängsten und Glücksmomenten teilhaben, weil sie eine Social-Media-Plattform zu ihrem Tagebuch macht.

Sarah teilt vieles mit Elisa, der Hauptfigur ihres literarischen Debüts MIT DIR, DA MÖCHTE ICH IM HIMMEL KAFFFEE TRINKEN. Und darum liegt zweierlei nah: Die Vermutung, dass die Genrebezeichnung „Roman“ hier ein Feigenblatt ist, hinter dem sich die Autorin bei Bedarf verbergen kann … und die Frage nach dem „Warum“, die sich zumindest mir als Leser von geringem Verstand bei autofiktionalen Texten oft aufdrängt – warum muss man so viel vom eigenen Leben in die Öffentlichkeit tragen? Warum sollten wir das lesen?

Antworten, die einige von uns vielleicht suchen im Zusammenhang mit dem Roman von Sarah Lorenz

Auf die Vermutung gibt’s vermutlich keine einfache Antwort, aber ich bin der Meinung, dass das Publikum solche Fragen auch nicht stellen muss – was geht’s uns an? Kunst entsteht schließlich auch dann, wenn Realität und Überschreibung aufeinandertreffen. Wer wie Sarah Lorenz so gekonnt damit spielt, sich durch Öffentlichkeit zu entlasten und die Energie aus der eigenen Reaktorkammer in die Weiten des World Wide Web abfließen zu lassen, der darf und kann (und vielleicht: muss) auf jeder Bühne stehen, die sich bietet. Zumal Sarah Lorenz meiner Meinung nach nicht kalkuliert auf Werbeeffekte setzt; sie taumelt auch nicht verständnisfremd durch ein Bloßstellungs-Panoptikum:

Sie lebt eine Authentizität 2.0, von der man sich anziehen oder verwirren lassen kann … und nie sicher sein sollte zu wissen, wie ernst sie es meint. Denn zumindest ihrer Hauptfigur Elisa legt Sarah Lorenz in den Mund:

„Ich war immer schon ein offenes Buch für jeden, der in mir lesen wollte, hatte nie ein Schloss. Geheimnisvoll und betörend sein [wie ich es für Stefan war], dieses Bild von mir liebte ich.“

Kann man auf verschiedene Arten interpretieren, natürlich; für mich ist es der augenzwinkernde Hinweis darauf, dass nicht nur Elisa, sondern auch die Autorin das Publikum zu ihren Aufziehschlüssel macht.

Was nun zu der Frage führt: Warum sollte man das alles lesen, diese 216 Seiten lange Chronik der seelischen und körperlichen Verletzungen?

Sarah Lorenz‘ Coming-of-Age-Drama gleitet zwar hauchfein am Torture Porn vorbei, aber dies mit einer Erzählhaltung und Stimme, wie ich sie selten – oder vielleicht noch nie? – erlebt habe. „Die perfekte Mischung aus Poesie und Punk“, so beschreibt Margarete Stokowski den Lorenz-Sound: Hier wird Umgangssprache wie ein saftiger Fruchteisbecher mit bunten Streuseln gehobener Ausdrucksweise gesprenkelt, hier erleben wir, wie viel Lautsprecherdurchsage in Introvertiertheit stecken kann. Und noch dazu mischt sich in all das ein Kammerorchester unterschiedlicher Humorarten.

Humor ist nicht nur, wenn man trotzdem lacht

Zugegeben, einfache Hihi-Optionen wird man in MIT DIR, DA MÖCHTE ICH IM HIMMEL KAFFEE TRINKEN vergeblich suchen, aber wenn Elisa sich sehnlichst wünscht, endlich Heroin-abhängig werden zu können wie ihr Idol Christiane F., darf man über diese kindliche Vernarrtheit schmunzeln. Natürlich ist es dann erschütternd, dass Elisa tatsächlich schon im Teenageralter den ersten Schuss gesetzt bekommt … aber zu ihrem Bedauern nicht wie erhofft auf einer ordentlich versifften Bahnhofstoilette, sondern auf einer Designercouch: „Punkrock war es nicht. Heroin war es trotzdem.“ Kein Schenkelklopfer – aber auf eigenwillige Art mehr Konfetti als Requiem.

Und wahrscheinlich ist es auch dieser nie nach vorne tretende, aber das ganze Buch zum Leuchten bringende schicksalsergebene Humor, der die Romanfigur Elisa nie zerbrechen lässt; sie hat die mentale Elastizität, die viele von uns aus der Kindheit kennen:

„Wir waren so jung, so jung, dass wir nicht einmal wussten, wie jung wir doch waren.“

MIT DIR, DA MÖCHTE ICH KAFFEE TRINKEN IM HIMMEL ist beeindruckend – aber gibt es auch Grund zur Kritik am literarischen Debüt von Sarah Lorenz?

Wenn ich Kritik üben wollen würde an Sarah Lorenz‘ Roman, dann ließe sich das gut an der gerade erwähnten Szene festmachen: Nach dem Intermezzo mit einer Abhängigen, die sich noch nicht vom schönen Schein einer Eigentumswohnung in Bestlage verabschieden musste, wünschte man sich, dass die Autorin diese Steilvorlage nutzt, um auszufabulieren, was Elisa in dieser Wohnung erlebt, nachdem die Besitzerin sie verlässt; stattdessen wird die Anekdote einfach abgehakt. Und so schön die Idee der Rahmenhandlung ist, in der Elisa ihr Leben in den (nicht ganz rutschfesten) Griff bekommen hat und nach Zürich reist, um das Grab von Mascha Kaléko zu besuchen: Auch die wird lediglich hingetupft. Obwohl man sagen kann, dass der Text dadurch muskulös bleibt, wäre meiner Meinung nach ein wenig Fett hier und da ein Zusatzgewinn gewesen.

Die große Stärke des Romans liegt aber natürlich darin, uns hineinzuführen in die Zündmomente der Systemsprengerin und uns ahnen zu lassen, wie sich viele der Tiefpunkte anfühlen – das Gefühl, im „großen kalten Haus“ ausgeliefert zu sein, um nur ein Beispiel zu nennen. Und gleichzeitig darf uns beeindrucken, dass Elisa zwar Opfer ist, aber eins, das sich die Deutungshoheit vorbehält, wenn sie zum Beispiel ihrer Mutter Verständnis entgegenbringt:

„Begonnen hat dieser Erstarrungsprozess wohl, als der Tod das erste Mal in ihr Leben trat, um ihre Schwester zu stehlen. […] Um Schicksalsschläge auszuhalten, braucht es ein Fundament. Braucht es einen Halt, am besten in Form eines Netzes aus verschiedenen Menschen. Doch das hatte sie nicht.“

Das ist jetzt wirklich eine lange Rezension geworden – wie findet dieser Leser von geringem Verstand denn nun zum Ende?

MIT DIR, DA MÖCHTE ICH IM HIMMEL KAFFEE TRINKEN ist ein in vielfacher Hinsicht besonderes Buch – eins, das mehr Stacheln hat, als man erwartet, und eins, das manchen Lesenden vielleicht zu viel sein könnte: zu viel Trauma, zu viel Brutalität, zu viele unschöne Momente mit Dosenbierlaschen oder Onkologieberichten. Wer sich darauf einlässt, wird eins der vielleicht ungewöhnlichsten Debüts des Frühjahrs 2025 erleben. Und für alle, die nun noch unentschlossen sind, setze ich mir die Rattenfängerflöte an die Lippen und zitiere zum Abschluss noch etwas Versöhnliches und Konsensfähiges:

„Eine echte Buchhandlung muss Kopfsteinpflaster vor er Tür haben. Eine echte Buchhandlung darf nicht zu modern wirken. Sie muss in jedem Jahrhundert dort gestanden haben können. Man darf ihr nicht ansehen, dass wir schon in der Zukunft leben. Das ist sehr wichtig, viele vergessen, wie wichtige diese Tatsache für das echte Buchhandlungsgefühl ist. Ich nicht!“

***

Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern das Leseexemplar vom Verlag geschickt bekommen. Bei meiner Rezension handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.

Sarah Lorenz: MIT DIR, DA MÖCHTE ICH IM HIMMEL KAFFEE TRINKEN. Rowohlt Hundert Augen, 2025.