Eine Liebeserklärung: Für diesen Roman wurde Martina Hefter zurecht mit dem Deutschen Buchpreis 2024 ausgezeichnet*
„Es war Juno beinahe egal, ob es ein gutes oder ein schlechtes Stück war. Hauptsache, sie konnte auf einer Bühne stehen. – Auf einer Bühne zu stehen war so ähnlich wie die Schlaflosigkeit, man konnte sich schnell darin verlieren. Jeder Theaterraum war eine Wunderkammer, in der man nicht in einer Richtung, zum Tod hin lebte, sondern kreuz und quer und vor und zurück.“
Juno Isabella Flock, Kulturschaffende jenseits der 50, ist mit einem Schriftsteller zusammen, der vielleicht Jupiter heißt; sicher ist, dass er so auf sie angewiesen ist wie auf seinen Rollstuhl. Und dass sie, die keinen Ausweg sucht aus dieser herausfordernden Lebenssituation, doch eine kleine Notausgangtür haben möchte, die sie manchmal einen Spalt öffnet, ohne Gefahr zu laufen, einen Alarm auszulösen.
HEY GUTEN MORGEN, WIE GEHT ES DIR? ist ein Roman, der so viele Resonanzböden zum Schwingen bringt, dass uns der Atem stocken könnte, würde Martina Hefter sich nicht darauf verstehen, dem allen (und selbst den mattesten Farben) mit leichtem Schwung Glanz zu verleihen: Eine Frau, die in den sozialen Medien immer wieder von Love Scammern angeschrieben wird, dreht den Spieß um – sie wirft ihnen Lügen an den Kopf, fordert sie heraus und lebt dabei eine Aggression aus, die sie sich im echten Leben nicht erlauben würde, die aber mehr Teil ihrer Persönlichkeit sein könnte, als es einer weiblich gelesenen Person gesellschaftlich zugestanden wird.
Juno hat sich unter einer Wolke der Selbstaufgabe eingerichtet, des Weitermachens, des sich Fügens. Dagegen ist kein Kraut gewachsen (auch keins, mit dem ihre Mutter früher Wehwehchen stillte) – stattdessen erlaubt ihr die Anonymität des Internets das Austesten von Rollen, die Verschiebung von Machtstrukturen, den Versuch, in eine Dominanz zu gelangen, wenn das Leben für sie nur das Gegenteil bereitzuhalten scheint. Ein Moment der Offenheit („Lausig geht es mir. Ich kann nämlich nicht einschlafen. – Das wirkt auf dich wie ein Luxusproblem, oder?“) wird dabei zum Auslöser für etwas, was eine Beziehung sein könnte jenseits der Parameter dessen, was im Zwischenmenschlichen ausdefiniert ist. Denn auf einmal gibt es da den Lügen-Casanova, der sie nicht blockt, um leichtere Opfer zu suchen: Benu, mit dem Juno chattet und Video-telefoniert; Benu, der nie nach Geld fragt; Benu, bei dem offen bleibt, warum er so wenig von Juno ablässt wie sie von ihm.
Ist HEY GUTEN MORGEN die Geschichte einer Ausbeutung, und wenn ja: von welcher Seite? Martina Hefter gibt uns keine eindeutige Antwort (stellt aber die Zusatzfrage, ob dies die Basis für alles ist, was jenseits einer 100-prozentigen Ehrlichkeit zwischen Menschen passiert). So wenig, wie die Autorin konkretisiert, was zwischen Benu und Juno passiert, definiert sie auch die Beziehung zu Jupiter: Diese ist für Juno Aufgabe und Überforderung zugleich, aber wenn sie die Menschen, die Jupiter nach dem umständlichen Einsteigen in einen Bus anstarren, mit wütenden Blicken in ihre Schranken weist, dann merkt man, dass hier eine Verbundenheit herrscht, die keiner liebevolleren Erklärungen bedarf.
Als Leser von geringem Verstand bin ich nicht unbedingt ein Fan davon, wenn AutorInnen keine Regieanweisungen geben für das, was ich empfinden soll; umso mehr bewegt mich auf Seite 97 eine der schönsten Szenen des Buchs: Dieses durch eine Wildbiene ausgelöste Zusammenspiel von ganz einfacher, tief empfundener Freude und dem Unvermögen, dem anders zu begegnen als mit Tränen, bei denen offen bleibt, ob ihre Quelle ebenfalls Glück ist oder Traurigkeit, oder ein Moment der Überforderung, der ebenso schmerzlich wie schön sein kann … WOW. Ein warmherziger Mindfuck in wenigen Sätzen; ein Geschenk, an dem man sich wieder und wieder erfreuen kann.
„Nur wenn ich auf der Bühne stehe, bin ich wirklich da. Dann gibt es mich“, lässt Hefter ihre Protagonistin an Benu schreiben, und so steht im Roman die Selbstinszenierung dieser müden, vom Film MELANCHOLIA besessenen Frau im Mittelpunkt, aber die Autorin lässt auch anderes einfließen, wie zum Beispiel die prekären Lebensbedingungen von Kulturschaffenden jenseits der Berühmtheitsgrenze, ein Hangeln von Förderungen zu Preisdotierungen, was allerdings nichts ist gegen die Entwürdigung, die das Hoffen auf eine Pflegestufenbestätigung bedeutet. Hefter streift außerdem Themen wie Barrierefreiheit und Altern, wobei sie dem letztgenannten mit Schicksalsergebenheit begegnet („Noch 23 Jahre, wenn alles gut ging.“) sowie einem vorsichtig lächelnden Maß an Zufriedenheit, weil es Juno inzwischen egal ist, ob ihre Diagonalen im Raum geradlinig sind. Und wie die Autorin ganz nebenbei die Oberflächlichkeit der modernen Kommunikation der Lächerlichkeit preisgibt („Früher hatte Juno immer gedacht, Lol wäre die Abkürzung für Lots of love.“), das ist augenzwinkernde Kunst.
Von der Kunst ist es manchmal nicht weit zur Künstlichkeit, und deswegen hätte ich mir diesen Roman fast entgehen lassen, weil ich ein Stilmittel arg aufgesetzt fand: Alle Figuren tragen die Namen von Göttern, Göttinnen oder anderen mythologischen Figuren. Aber warum haben Menschen begonnen, Geschichten über höhere Wesen zu erzählen? Um sich die Welt zu erklären, um einen Sinn zu finden, um moralische Grundfesten zu errichten (oder auch niederzureißen) … und das Alltägliche gleichsam abstrahiert und konkretisiert zur erzählenswerten Geschichte zu adeln. Das tut Hefter auch, nur um diesen Anspruch dankenswerterweise zu brechen: „Das ist alles andere als eine Geschichte aus der griechischen Mythologie. Später musste Juno nochmal los, Klopapier kaufen.“ Lol, im einen wie im anderen Sinn.
Ich habe mich mit viel Vergnügen in einen Text fallen lassen, in dem selbst Randbemerkungen sich nicht vor Tiefe schämen, wenn zum Beispiel ein Text über Kolonialgeschichte gelesen wird, als würde man Schlucke aus einer heißen Teetasse nehmen. Und obwohl ich den allzu offensichtlichen Flirt mit der Metaebene oft als Ausrutscher empfinde, hat er mir bei Hefter Freude bereitet: „Es ist schon irre, dass ich das einfach so tun kann. Ein Stück schreiben über alles, was passiert in meinem Leben und allgemein“, schreibt Juno an Bemu. „Es ist dieser Text hier. Wir sehen ihn vor uns, es ist gar kein Theaterstück mehr, und wenn man noch eines draus machen möchte, wird man gewaltig kürzen müssen. […] Einen Text über Tattoos, den Planet Melancholia, über ältere Frauen, Love-Scammer, Nigeria. – Ein Text über dich, mit dem ich chatte.“
Was ist eine Rezension für ein Text? In der Regel kein Dialog, sondern eine Einbahnstraße. Und in diesem Fall eine, an deren Ränder ich Blumen, Blumen, ganz viel Blumen setzen möchte – um mich bei Martina Hefter für den wirklich besonderen Roman HEY GUTEN MORGEN, WIE GEHT ES DIR? zu bedanken.
* Eine Anmerkung: Dass Martina Hefter den Deutschen Buchpreis gewinnen würde, wusste ich noch nicht, als ich diese Rezension geschrieben und erstmalig veröffentlich habe.
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Ich habe dieses Buch im Rahmen des #buchpreisbloggen rund um den Deutschen Buchpreis 2024 als Rezensionsexemplar vom Verlag bekommen; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Martina Hefter: HEY GUTEN MORGEN, WIE GEHT ES DIR? Klett-Cotta Verlag, 2024
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