Eine Liebeserklärung an Frauen, die auch in engen Korridoren ihre eigenen Wege zu gehen gelernt haben

„Über andere zu reden verschafft dem Herzen Luft.“

Ist dieses Buch gut gealtert oder nicht, ist es gar von zeitloser Schönheit, gestern – und definitiv heute – gewürzt mit unerfüllter Hoffnung? Diese Fragen gingen mir durch den Kopf, während ich in STICHELEIEN versank, dieser wunderbaren Graphic Novel von Marjane Satrapi.

Weltweit bekannt wurde die 1969 in Teheran geborene und heute in Frankreich lebende Künstlerin und Filmemacherin durch PERSEPOLIS, die Aufarbeitung ihres Heranwachsens und der Auswirkungen, die zuerst die Iranische Revolution und dann der Terror der Revolutionswächter auf ihr Leben hatten; als Jugendliche lebte sie für ein paar Jahre in Österreich, bevor sie in ihre alte Heimat zurückkehrte, um dort zu studieren (nur um später, als die Verfilmung ihres Buchs für den Oscar nominiert war, als „Staatsfeindin“, „Hure des Westens“ und Mitarbeiterin von CIA und/oder Mossad beschimpft zu werden).

Wie auch MAUS von Art Spiegelman gehört PERSEPOLIS sicher zum Kanon der Weltliteratur. Drei oder fünfzehn Jahre nach diesem Erfolg (je nachdem, ob man dem Impressum oder Wikipedia glaubt) veröffentlichte sie mit STICHELEIEN ein weiteres Buch, das eine deutlich kleinere Geschichte zu erzählen scheint. Im Mittelpunkt steht ein enger Kreis von Frauen, die sich um Satrapis einst (und möglicherweise immer noch) mondäne, opiumabhängige Großmutter scharen: Sie sitzen nach dem Essen beim Tee zusammen – und tratschen, was das Zeug hält.

Es geht um verlorene Jungfräulichkeit und die Folgen, die das für eine iranische Frau in der Hochzeitsnacht haben kann, um Kinderehen, um unglückliche Lieben und den fragwürdigen Rat einer Wahrsagerin. Männer sind im besten Fall enttäuschend, in der Regel aber verschlagen, nur auf den eigenen Vorteil bedacht und vielleicht nicht immer so leicht zu domptieren, wie die Damen es gerne hätten. „So ist das Leben“, sagte die Großmutter, „mal sitzt du obenauf, mal kommst du unter die Hufe.“ Ähnlich abgeklärt und schonungslos sind diese Frauen, wenn es um andere geht, und schicksalsergeben, was sie selbst betrifft, denn sie haben ihre relative Freiheit bewahren können. Und wenn manchmal ein Besuch beim Schönheitschirurg reicht, um den Ehefrieden zu wahren, warum eigentlich nicht? (Ich könnte dazu etwas sagen, aber …)

Satrapi erzählt ihre Geschichte mit klaren schwarz-weißen Zeichnungen ohne Graustufen in einem – vermeintlich – einfachen, reduzierten Comic-Stil; große Dynamik bekommen die Seiten, die ohne jede Normierung oder Panels gestaltet sind, durch das Handlettering von Michael Hau, das die Darstellungen umfließt und (zumindest für mich) Erinnerung an ein Künstlertagebuch weckt.

STICHELEIEN ließe sich wie ein „heiterer Frauenroman“ lesen, denn die entspannte Lästerhaltung der Protagonistinnen kann darüber hinwegtäuschen, dass ihre Lebensumstände nicht positiv sind. Oder besser: waren, denn wie gesagt, dieses Buch wurde 2003 oder 2015 veröffentlicht. Angesichts der Zustände im Iran des Jahres 2024, dem brutalen Wahnsinn, den ein fanatisches System über sein Volk bringt, fühlt es sich verboten an, beim Blättern durch die 137 von Martin Budde übersetzten Seiten zu schmunzeln. Zumal man die Frage stellen kann, ob es neben der Abscheulichtkeit des Patriarchats auch die fehlende Solidarität unter Frauen ist, die ein System stützt? (Die Beurteilung einer Lage aus der sicheren Ferne verbietet sich natürlich; das ist etwas, was heute oft vergessen wird.) Ich empfehle in diesem Zusammenhang STADT DER LÜGEN von Ramita Navai, aber Vorsicht, es ist kein light summer read.

Gibt es heute jenseits der Schreckensnachrichten über Verfolgung und Hinrichtungen im Iran der Gegenwart diese Art von alltäglichen, privaten Zusammenkünften noch; ist Unbeschwertheit etwas, was sich wie Wasser immer einen Weg sucht und findet? Ich hoffe es sehr. Und STICHELEIEN erinnert uns daran, was für eine Segnung es ist, in einem Land wie unserem zu leben.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Marjane Satrapi: STICHELEIEN. Aus dem Französischen von Martin Budde. Edition Moderne, 2016