Annett Gröschner setzt mit ihrem Roman SCHWEBENDE LASTEN all jenen Frauen unserer Großmütter- und Urgroßmüttergeneration ein Denkmal, deren Leben Schicksalsromanen glichen
„Der gelungene Strauß ist einfach gehalten, in der Gestaltung wie in der Fertigung. Auf die innere Ordnung ist zu achten. Aber was Hanna gelernt hatte, vergaß sie im Leben oft genug und mit Absicht.“
Das Bild auf dem Umschlag ist verschwommen; man kann nicht sicher sein, ob es ein zweckentfremdeter Familienschnappschuss ist … oder Kunst von Gerhard Richter? Aber schon nach der ersten Seite, einer Zusammenfassung des kompletten Romans, ist klar: Hier wird nichts unscharf bleiben. Und Kunst? Ist es auf jeden Fall!
In SCHWEBENDE LASTEN erzählt Annett Gröschner vom Leben einer Frau – und vom Leben in Deutschland zwischen Nazi-Diktatur und Krieg, DDR und Wiedervereinigung, zwischen kleinen Glücksmomenten und größeren Schicksalsschlägen. Wäre man selbst die Hauptfigur, man würde die Autorin fragen: „Sag mal, geht’s noch?“ Denn Annett Gröschner schont ihre Hanna Krause nicht, im Gegenteil: kalte Schwestern, Armut, sechs Geburten, aber nur vier Kinder, die das Erwachsenenalter erreichen, die Verwüstungen des Kriegs und des Alltags, das alles ist darauf angelegt, Hanna in die Knie zu zwingen … wäre sie nicht mit einer Widerstandskraft gesegnet, die ihresgleichen sucht.
Annett Gröschners Roman SCHWEBENDE LASTEN ist nichts für allzu Zartbesaitete
Würde man sich eine Liste der Schläge aufschreiben, die Hanna treffen, man müsste zu dem Schluss kommen, dass das alles zu viel ist, zu verdichtet, zu konstruiert. Und doch werden sich viele Lesende an Erzählungen über Großmütter und Urgroßmütter erinnern, die auf vieles nicht einmal hoffen konnten, was wir heute als unabdingbar für die zentralheizungsgewohnte Menschenwürde ansehen. Ein Frauenleben, das ist im 21. Jahrhundert je nach Ausgangslage immer noch alles andere als leicht – aber für die Generationen vor uns war es beständiges Ausdauertraining für Körper und Seele. Und nicht selten ein Martyrium.
SCHWEBENDE LASTEN ist eine großartige Titelformulierung, die sich natürlich dadurch erklären lässt, dass Hanna nach ihrer Zeit als Blumenhändlerin den Kran einer Maschinenfabrik bedienen wird – und unter diesem warnen Hinweisschilder davor, was über den Köpfen hängt. Vor allem sind diese beiden Begriffe, so widersprüchlich sie eigentlich sind, aber auch die beste Zusammenfassung von Inhalt und Stil: Was Hanna widerfährt, ist fast ausschließlich schwer – aber die Sprache, die Annett Dröschner dafür findet, ist leicht.
SCHWEBENDE LASTEN, die inhaltlich schwer wiegen – und erzählerisch fliegen
„Leicht“ meint in diesem Fall: Sie ist bewusst einfach gehalten, unaufgeregt, ohne Spielereien oder um Bewunderung heischende Formulierungen. Das kann dazu führen, dass mancher Dialog im Mittelteil für mein Empfinden etwas hölzern wirkt, wenn beispielsweise zwei Schwestern über ihre Familiengeschichte sprechen; im Nachhinein erklärt sich mir dies als eine Art Perspektivverschiebung, als ein Dialog, bei dem wir nicht in der Front Row sitzen, sondern der für uns von einer Erzählstimme wiedergegeben wird, die kein Interesse an fließender Ausgestaltung hat. Oral History, und so.
Dem gegenüber steht etwas, was ich Leser von geringem Verstand als Poesie der Grausamkeit bezeichnen würde. Bei den bereits erwähnten Schicksalsschlägen, die Gröschner auf Hanna einprasseln lässt, liegen die Brutalität der besonderen Bilder mit der Faszination für ebendiese nah beieinander: Wenn ein Junge davonfliegt, ein Mädchen nie aus seinem Dornröschenschlaf erwachen wird … oder, um auch mal etwas Schönes einfließen zu lassen, wenn ein Mantel fast so etwas ist wie ein Vorratsschrank, der das Überleben sichert.
Obwohl hier nun viel die Rede war von den Schicksalsschlägen, die Hanna treffen, rutscht SCHWEBENDE LASTEN nie in Torture Porn ab, und obwohl ich dem Roman sofort das Prädikatssiegel „Literatur“ verleihen würde, hat er auch eine herbe Süffigkeit und ließ mich zwischendurch an die Unterhaltungs-Bestseller JUNGE FRAU, AM FENSTER STEHEND, ABENDLICHT, BLAUES KLEID und BEI EUCH IST ES IMMER SO UNHEIMLICH STILL von Alena Schröder denken.
Annett Gröschner macht in SCHWEBENDE LASTEN keine Gefangenen – belohnt uns aber mit schönen Momentaufnahmen
Um Sterne zu sehen, braucht man die Dunkelheit, und vor der in diesem Buch leuchten manche Momente besonders hell: Ein Mann mit Kunstpostkarte, der fast einen Hauch von DIE FABELHAFTE WELT DER AMÉLIE in das Magdeburger Grau bringt, die erste Magnolienblüte im Frühjahr 1945, Puppenstubenfigürchen in einer Manteltasche, der Geruch von frischen Blumen, der Schleudergang einer Waschmaschine („Huch!“), der Luftsprung einer Chinesin vor dem „Mädchen mit dem Perlenohrring“.
„Leicht“ als Beschreibung der Erzählweise von Annett Gröschner meint nämlich auch: Der Text fließt, sein Ton trägt uns davon aus dem Alltag, und wenn ich nun mit einigem Abstand an das Buch zurückdenke, dann meine ich fast, Hanna leichtfüßig durch ihr hartes Leben tanzen zu sehen. Und dass am Ende eine Schachblumenblüte fehlt? Passt ganz wunderbar!
(Was nun ein schönes Schlusswort wäre – aber ich will noch schnell die Herstellabteilung des Verlags rühmen. Zwar ist die Gestaltung des Rückseitentext für mein Gefühl misslungen – Wie viel Text kann man wie breit auf so eine Fläche pressen? –, aber dafür ist die Struktur des Einbands ein handschmeichelndes Vergnügen.)
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Ich habe dieses Buch nicht selbst gekauft, sondern bei einem Verlagsbesuch und Interview für meinen Podcast von der Programmleiterin in die Hand gedrückt bekommen. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Annett Gröschner: SCHWEBENDE LASTEN. C.H. Beck, 2025.
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