Es stinkt, man staunt, und am Ende weiß man nicht, ob man vor Rührung weinen soll oder weil man den Schmerz der Figuren führt: CINEMA LOVE von Jiaming Tang hält ein Wechselbad der Gefühle für uns bereit.

„Plötzlich versteht sie, warum er die ganze Zeit am Fenster sitzt und an früher denkt. Nicht aus Dummheit. Um zu überleben. Um sich vor einer Realität zu schützen, die einen regelrecht umhauen kann. Außerdem fühlt es sich gut an, so zu sitzen. Alles loszulassen und sich auf die eigenen Lügen und Erinnerungen zu konzentrieren – Letztere so süß, dass sie Ameisen anlocken.“

Drei Menschen, die tausende Kilometer von der alten Heimat entfernt in einem Zimmer sitzen, in dem die Hoffnung auf bessere Zeiten längst verflogen ist und die Schatten der Vergangenheit erdrückend schwer geworden sind. Kann es helfen, sich einfach zu wünschen – und vorzustellen –, es wäre anders?

Manche Romane scheitern, wenn die Schreibenden sich ein zu großes Thema vornehmen – und andere ziehen ihre Stärke gerade daraus, dass sie mehrere Herausforderungsebenen miteinander verflechten. Zu den letztgenannten gehört CINEMA LOVE.

CINEMA LOVE von Jiaming Tang ist ein vielschichtiger Roman, der immer wieder begeistert

Jiaming Tang erzählt über Einwanderer, wobei einige von ihnen nicht einmal ihr Zuhause verlassen müssen, um als vermeintliche Eindringlinge angesehen zu werden. Der chinesisch-amerikanische Autor zeigt, welche Fallstricke der Versuch haben kann, Solidarität zu leben; wie gekränkte Eitelkeit zu einem Drama führt, das mehr als ein Leben überschatten wird; wie man überlebt an Orten, an denen man nicht erwünscht ist – aufgrund der Sexualität, der Herkunft, der Einschränkungen, die man nicht einmal dann hinter sich lassen kann, wenn man es versucht. (Ab hier kann meine Rezension sanfte Spoiler enthalten.)

CINEMA LOVE entführt uns zunächst in die chinesische Provinz Fuzhou, in dem ein heruntergekommenes Arbeiterkino zum Zufluchtsort für Männer geworden ist, die nicht hierherkommen, um alte Kriegsfilme zu sehen, sondern um im Schutz der Dunkelheit Nähe zu suchen und zumindest Sex zu finden. Zu ihnen gehört auch Old Second, der nach seinem unfreiwilligen Outing als Kind gedemütigt wird

„Die Faust seines Vaters, die Spucke seiner Mutter – wobei die Spucke mehr weh tat.“

und schließlich verstoßen, und dessen Hoffnung auf ein bisschen Glück dazu führt, dass sein Geliebter Shun-Er die ungeschriebenen Gesetze seiner Ehe mit Yan Hua bricht – was fatale Folgen haben wird. Auch für Bao Mei, die hinter der Kasse sitzt und in den Filmvorführer verliebt ist, der im Gegensatz zu ihr nicht ahnt, was im Kinosaal vor sich geht. Und dann gibt es da noch Hen Bao, oder zumindest seinen Geist, der sehnsüchtig die Nähe seiner Schwester Bao Mei sucht.

Was wird einige dieser Figuren schließlich auf unterschiedlichem Weg nach Amerika führen, in die Freiheit von Ghettos, die sich China Town nennen? Und ist es zwischen schmerzhaften Erinnerungen und ebensolchen Offenbarungen, zwischen dem Gefühl von Zugehörigkeit und der Abwesenheit von Liebe, zwischen den Reißzähnen des Kapitalismus, der Armut und der Gentrifizierung auf der einen und der Gefahr durch Covid und Wutbürger auf der anderen Seite vielleicht wirklich die einzige Option, sich auf den Boden zu legen, seine Kühle am Gesicht zu spüren und davon zu träumen, dass alles so schön sein könnte wie in Briefen, die man an Menschen schreibt, die diese niemals lesen werden? (An dieser Stelle ein Fleißkärtchen: 533 Zeichen in einem Satz – Lob und Anerkennung, wenn ihr ihn gelesen habt!)

CINEMA LOVE ist ein Buch mit schwulen Figuren – aber Jiaming Tang hat einen Roman geschrieben, der ein breiteres Publikum als LGBTQI+ bereichern wird

„Das Weib soll schweigen in der Kirche“ ist die zugespitze Umformulierung einer Textzeile aus einem Brief an die Korinther, die viel aussagt über die von Paulus für Frauen vorgesehene Rolle im Christentum, und das ging mir immer wieder durch den Kopf, während ich CINEMA LOVE las:

Der Roman bedient einmal mehr den Literatur-Trope „Der Schwule soll leiden im Romane“, der mich normalerweise schnell ermüdet … diesmal aber zu meiner Überraschung mit wachsender Neugier bei der Stange hielt. Ob Jiaming Tang seinem Buch und der queeren Community einen Gefallen damit tut, schwulen Sex immer in Zusammenhang mit olfaktorischen Problemstellungen zu setzen, sei dahingestellt – was mir dagegen gut gefällt ist, dass er auch darüber schreibt, was die Homosexualität der Männer für deren Frauen bedeutet. So viel kann man verraten: Sie haben Schweigen gelernt … aber es bleibt nicht dabei.

Sonnenschein darf man in CINEMA LOVE nicht erwarten, dafür eine Geschichte, die bewegt und fesselt, einiges zu sagen hat über Ausgrenzungen der unterschiedlichsten Art und über Zweckgemeinschaften, die mal mit einer Eheschließung beginnt und mal durch eine aus der Not geborenen Freundschaft. Könnte man das Buch in vier Teile auseinanderdifferenzieren, so würde ich Leser von geringem Verstand die ersten beiden und den letzten sehr gelungen nennen, während ich mich mit dem dritten etwas quälen musste – auch wenn das Kritik an einem Text ist, dessen hohen Niveau durchgehend unbestreitbar ist, was sicher auch an der flüssigen Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner liegt.

Was will ich noch erwähnen? Wie gut hier in wenigen Sätzen Schrecken und Absurdität eingefangen werden, die es bedeutet, wenn ein oppressiver Staat Polizeigewalt anwendet:

„Er ist doch viel zu jung, noch nicht mal ein Mann, wollte Old Second den Schaulustigen zurufen. Sie haben ein Kind geschickt, um mein Leben zu vernichten. | Und das Kind war bereit dazu.“

die Art, wie sich alter Glaube und moderne Zeiten mischen:

„Die meisten Ratschläge kamen von ihrem Bruder, der – außerhalb des Kinos – in einem Grab am Hang eines Berges lag. Hier jedoch war der ein Schutzgeist. Ein Volksgott, der Patiencen spielte und nie gewann.“

wie das Schöne und das Schreckliche nah beieinander liegen:

„Als Shun-Er sich endlich zu Old Second vorbeugt und ihn küsst, erklingt auf der Leinwand der Tod. Niemand achtet darauf, wie ein Soldat aufs Schlachtfeld läuft und von einer Mine zerfetzt wird.“

und wie sehr mich die bereits erwähnte Idee einer Figur (und somit des Autors), Briefe zu schreiben, bewegt hat – denn denken wir nicht alle manchmal an die Hässlichen Mulans unseres Lebens und hoffen, es geht ihnen gut?

Ist CINEMA LOVE – vom wirklich sehr schönen Schutzumschlag abgesehen – ein Roman, an den man sich in zwei, drei Jahren noch erinnern wird und der vielleicht einen Platz im queeren Kanon einnehmen kann? Ich weiß es nicht. Aber ist es ein Roman, den ich gerne gelesen habe und jetzt aktuell weiterempfehlen kann? Auf jeden Fall!

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Ich habe dieses Buch nicht selbst gekauft, sondern seiner Lektorin geschenkt bekommen: Vielen Dank dafür! Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Jiaming Tang: CINEMA LOVE. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Klett-Cotta, 2025.