Angelo Tijssens hat einen Roman geschrieben, von dem man sich beschenkt fühlen darf
„Du stellst noch eine Frage und da wird sie böse und brüllt, dass du ein Fehlkauf warst. Hätte sie sich mal lieber ein Schwein zugelegt, das hätte sie wenigstens essen können, wenn es groß ist. Du machst sie nur arm. – Es ist der Anfang der Frühjahrsferien. In vier Tagen wird du zehn.“
AN RÄNDERN ist ein besonderes Buch, das mich in seiner Wirkung an den Arthouse-Film THE WEEKEND von Andrew Haigh erinnert, den ich als Miniaturen empfunden habe, auf die man sich anders einlassen muss als auf gängigere Geschichten. Wie beim Film habe ich auch beim Lesen des Romans von Angelo Tijssens manchmal gedacht: Schon gut, schon schön, aber zu hingehaucht und zu still? Nur um dann zu merken, dass die Geschichte nach der letzten Seite so nachgewirkt hat in mir, dass ich nun es mit einigen Tagen Abstand an mein Herz drücken möchte.
Es ist beeindruckend, wie Tijssens auf den wenigen, von Stefanie Ochel übersetzten Seiten (die unnummeriert sind, weil Zahlen – wie eine Rezensentin auf Instagram sehr schlau schreibt – „das lineare Voranschreiten eines Plots vortäuschen und das Kreisen, Fließen und Springen der Geschichte stören würden“) ein Drittel Leben und eine ganze Leidensgeschichte erzählt, die von den Auslassungen genauso lebt wie von den intensiven Momenten, an denen wir teilhaben dürfen. Zwischendurch fragte ich mich, ob der Autor sich zu sehr darauf verlässt, dass Torture Porn uns Lesende bewegt; aber die Gewalt, die der namenlose Ich-Erzähler erdulden muss, ist in gleichem Maße unerträglich wie durch den Filter der Erinnerung verwaschen – anders ausgedrückt: perfekt eingebunden, ohne sich Marktschreiertricks zu bedienen.
Und die Handlung? Ist denkbar einfach – weswegen ich nachfolgend ein Detail spoilere –, und doch auch nicht: Der Ich-Erzähler kehrt in seinen Heimatort in Flandern zurück, weil die Frau gestorben ist, die ihn zur Welt gebracht hat; von einer Mutter möchte man nicht sprechen. Er begegnet dem Mann, in dessen Gegenwart er früher Nähe empfunden hat. Und kehrt nach den Erinnerungen an das, was war, in sein Leben zurück, in dem eine typisch nichtssagende Chatnachricht (und das wünsche ich der Figur so intensiv, als wäre es eine reale Person) den Beginn von etwas Neuem bedeuten könnte. So weit, so einfach – hätte der Text nicht diese ganz eigene Magie aus Sprache, dem nach vorne Fließen der Handlung und dem Zurückweichen von allem, was zu konkret sein würde:
Kein Satz ist hier zuviel, und obwohl ich als Leser von geringem Verstand ein Freund des Auserzählens bin, ist es verblüffend, dass mir nichts fehlt, sondern ich mich durch AN RÄNDERN reich beschenkt fühle.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Angelo Tijsssens: AN RÄNDERN. Aus dem Niederländischen von Stefanie Ochel. Rowohlt Verlag, 2024
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