Mit diesem Roman wurde Virginie Despentes international berühmt
„Während der Kerl es ihr besorgt, hat sie an die Szene vom Nachmittag gedacht, wie Nadine die Frau an der Wand zermatscht hat, wie sie dann von der Knarre zerfetzt wurde. Bestialisch, wirklich. So gut wie ein Fick. Oder ist es eher der Fick, den sie genauso wie das Massaker liebt? Sie zieht ihre Strumpfhose wieder hoch und geht zurück auf die Hauptstraße … Es ist unglaublich angenehm draußen, sie geht gemächlich zum Hotel zurück.“
Der Roman BAISE-MOI – FICK MICH soll bei seiner Veröffentlichung 1993 oder 1994 (laut Wikipedia, 1996 laut dem Rückseitentext) in Frankreich für einen Skandal gesorgt haben – und hat 30 Jahre später nichts von seiner Wucht verloren. Oft wird er in Verbindung gebracht mit THELMA & LOUISE, und ja, man kann davon ausgehen, dass Virginie Despentes den Film kannte, als sie ihr literarisches Debüt in angeblich drei Wochen auf der Schreibmaschine ihres Vaters schrieb – und dabei die ganze Zeit auf Koks gewesen sein soll.
Anders als die beiden Amerikanerinnen bewegen sich die Prostituierte Nadine und die alkoholkranke Pornodarstellerin Manu von Anfang an am unteren Rand der Gesellschaft und entdecken ihre Freiheit (vielleicht sogar das, was sie für die einzige ihnen zustehende Form von Glück ansehen) durch die ersten Morde. BAISE-MOI ist dreckig, gemein, es stinkt nach Schweiß und Blut und Sperma … und hat dabei so einen Sog, dass man das Buch auch dann nicht zur Seite legt, wenn man sich selbst beschmutzt fühlt.
Immer wieder werden „Arschbacken brutal auseinandergerissen“, es wird auf das zerschossene Gesicht einer Leiche gepinkelt, dann einem Jungen ein Walkman geschenkt und im nächsten Moment hemmungslos auf Polstermöbel menstruiert. Was mich an BAISE-MOI gleichermaßen abgestoßen und gefesselt hat ist die rohe Kreatürlichkeit der beiden weiblichen Figuren (ich weiß zu wenig über das Werk von Kathy Acker, aber Despentes nennt sie als Inspiration), die nie dadurch emotionalisiert wird, dass sie zum Beispiel Rache an den Männern nehmen, die Manu brutal vergewaltigen und danach umbringen wollen; eins ihrer Opfer begegnen ihnen sogar mit einem freundlichen Lächeln. Nadine und Manu sind keine Anti-Heldinnen wie so viele Figuren, denen wir in Despentes Subutex-Trilogie begegnen, weil der zweite Wortteil in keiner Weise auf sie zutreffen kann (auch wenn man Nadine am Anfang noch zujubelt, wenn sie ein paar pöbelnde Jungen verbal in die Eier tritt), und ob ich von einem Befreiungsschlag sprechen würde … puh, ja, natürlich ist es das, aber wäre der Begriff nicht zu positiv konnotiert?
Als sich den beiden Frauen durch ein kleinkriminelles Geschwisterpaar – in deren Gegenwart sich für einen kurzen Moment rührend die Verbundenheit der beiden zeigt – ein Ausweg aus ihrer Misere zu bieten scheint, lehnen sie ab, da es in ihrer sehr eigenen Sicht der Dinge unmoralisch wäre, aus finanziellem Anreiz zu töten („Ich finde es erschreckend vulgär, ein Motiv zum Töten zu haben. Das ist eine Frage der Ethik. Darauf lege ich Wert. Ich messe der Schönheit einer Geste sehr große Bedeutung bei. Sie muss selbstlos bleiben.“). Auch deswegen musste ich an AMERICAN PSYCHO von Bret Easton Ellis denken; doch wo Patrick Bateman sich vermeintlich gottgleich in einer aseptischen Yuppie-Welt bewegt, in der er genauso akribisch über Pflegeprodukte und Whitney Houston-Songs nachdenkt wie über die Folterung von Prostituierten, erleben wir in BAISE-MOI Frauen, die in einer von Gewalt, von Menschen- und besonders Frauenverachtung bestimmten Welt schon so oft gebrochen wurden, dass sie nur noch aus dem Instinkt hinaus agieren … und die meiste Zeit so betrunken sind, dass man sich fast wünschen würde, ein Organversagen würde ihnen Einhalt gebieten.
Was die Lektüre der von Jochen Schwarzer und Kerstin Krolak übersetzten 239 Seiten noch über den Inhalt hinaus zu einer Herausforderung für mich gemacht hat ist die Frage, warum mich das alles so tief trifft … und warum ich Leser von geringem Versand das Gefühl – den Wunsch! – habe, dass die hemmungslose Gewaltorgie zweier Frauen eine Rechtfertigung verdient, einen Sinn hat oder ein Ziel. Ist BAISE-MOI ein feministisches (Meisterinnen-)Werk … und würde ich bei männlichen Figuren vielleicht nicht so heftig zucken, weil ich denen eine gewisse Verderbtheit viel leichter zugestehe? Auf diese Fragen habe ich keine Antwort. Wer mich erleuchten kann: Ich wäre dankbar dafür.
Nadine und Manu wissen, dass es für sie keinerlei mildernde Umstände geben kann, wobei offen bleibt, wer am Ende den größeren Preis bezahlt. Wir Lesenden zahlen einen vergleichsweise geringen, weil wir nach der letzten Seite in unsere Leben mit Bio-Gemüse und To-Go-Kaffee zurückkehren dürfen … und doch befürchte ich, dass mich Despentes Buch noch länger verfolgen wird. Aber ist das nicht eins der Erkennungsmerkmale von gelungener Literatur?
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Virginie Despentes: BAISE-MOI – Fick mich. Aus dem Französischen von Jochen Schwarzer und Kerstin Krolak. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2002 (Neuausgabe Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2023)
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