Heiter ist anders: Zum Endes des Jahres noch eine Literatur-Nobelpreisträgerin – und ein Roman, der verstört … und begeistert

„Zwar wünschte er sich, sie möge überleben, zugleich fragte er sich aber, ob es einen Sinn hätte.“

Man muss etwas nicht verstehen, um es zu mögen – und gleichzeitig ist es schwer, etwas zu mögen, wenn man es nicht versteht … Während mein innerer Richard David Precht sich mit einer eleganten Bewegung sein seidenglattes Haar aus dem Gesicht streicht, um diesem Gedanken etwas Raum zum Nachwirken zu geben, sitze ich hier und finde es herausfordernd, meine Gedanken zum achten Roman der Literatur-Nobelpreisträgerin Han Kang zu ordnen. Manche Klassenzimmer verlässt man nie, und darum frage ich mich, ob es nun Segen oder Pech ist, dass ich in meiner Abiturklausur nur durch DIE BLECHTROMMEL stolpern musste und nicht durch DIE VEGETARIERIN? (Achtung: Nachfolgend gibt es Spoiler.)

Zumindest der Anfang einer Interpretation scheint einfach: Yong-Hye will nicht länger Opfer sein – nicht Opfer ihres gewalttätigen Vaters, nicht ihres Mannes, dem sie ohne jede Form von emotionaler Bindung zu Diensten sein muss in Küche und Bett, nicht Opfer der verstörenden Träume, die sie quälen. Vordergründig, um den nächtlichen Schauerbildern zu entfliehen, beschließt sie, vegan zu leben (dass der Titel behauptet, sie wäre „nur“ Vegetarierin, liegt vermutlich daran, dass diese Unterscheidung, als das Buch 2007 in Korea erschien, noch nicht getroffen wurde). Eine kleine Verschiebung im Alltag, sollte man denken, doch für ihre Familie ist es weit mehr als ein harmloser Akt der Auflehnung …

DIE VEGETARIERIN wird in drei Kapiteln von jeweils einer Person erzählt – von Yong-Hyes lappigem Ehemann, der sie heiratet, weil er sich ihr trotz seiner Komplexe überlegen fühlt (und es enttäuschend findet, nur bei jeder dritten Vergewaltigung in sie eindringen zu können), von ihrem Schwager, der in ihr seine Leinwand sieht für Träume und Kunst, und von ihrer Schwester, die sich einfach wünscht, dass ihre Schwester wieder „funktioniert“, damit es auch für sie weiter möglich ist.

Über die Schwester könnte man vieles schreiben, fast mehr als über Yong-Hye: Zum Beispiel, dass sie sich einer Augenliedoperation unterzogen hat, um einem Schönheitsideal zu entsprechen, von dem offen bleibt, ob es (auch) ihr eigenes ist; sie repräsentiert, anders als ihre kleine Schwester, ein „vorbildliches“, weil angepasstes Frauenbild, und obwohl sie die inneren Brüche nicht ignorieren kann, fällt es ihr (noch!) leicht, sie zu kitten.

Wir lernen Yong-Hye also durch den Blick anderer kennen, und das Faszinierende ist, dass sie trotzdem klar aus diesen Winkeln heraustritt – sich gleichzeitig aber ein Geheimnis bewahrt. Mich würde daher interessieren, mit welchem Gedanken Han Kang in die Arbeit an ihrem Buch gestartet ist (das ursprünglich wohl als vier und nicht nur als drei aufeinander aufbauenden Novellen geplant war): Hat sie sich Yong-Hyes Entwicklung in den einzelnen Eskalationsstufen erarbeitet … oder wusste sie von Anfang an, wie der (Lebens-)Weg ihrer Protagonistin enden sollte?

Will die junge Frau, die bisher doch alles andere als auffällig war, sich schützen, will sie rebellieren – oder gleitet sie in eine psychische Krankheit, auf die sie keinen Einfluss nehmen kann? Es liegt nah, von einer Todessehnsucht der Figur zu sprechen – sie wird am Ende jegliche Nahrungsaufnahme verweigern und von der Transformation in einen Baum träumen, von Armen, die Wurzeln werden, und Blüten, die aus ihrem Schritt in die Höhe wachsen sollen (eine Absage an die Anforderung an Frauen, für die Vermehrung der Menschheit zu sorgen) –, aber so einfach ist es dann doch nicht.

(Vermutlich rufen gebildete Lesende dieser Zeilen nun „Kafka, um Gottes Willen, Tim, das ist doch voll Kafka“ – mag sein, ja, aber das scheint mir erneut zu kurz gesprungen.)

Han Kang lässt uns, oder zumindest mich Leser von geringem Verstand, im Unklaren, ob der Tod für Yong-Hye die ultimative Kontrolle über ihr eigenes Leben bedeutet, also ein Akt der Selbstermächtigung ist – oder geht es für sie vielmehr darum, spirituelle Erweckung und Entrückung in der „unschuldigen“ Natur zu finden, in eine andere Art von Leben zu wechseln jenseits der Kreatürlichkeit, der wir als menschlich atmende, essende, empfindende Wesen unterworfen sind? Vielleicht ist Yong-Hyes Wunsch, zur Pflanze zu werden, aber auch dadurch gespeist, dass sie erkennt, dass sie als Mensch nie etwas anderes sein kann als ein Raubtier (sanfter als der patriarchale Vater natürlich, aber doch ähnlich grausam), das dem qualvollen Tod eines Hundes oder Fischs mit Gleichgültigkeit begegnet und seine Zähne in den Körper eines lebenden Vogels schlagen wird?

DIE VEGETARIERIN ist ein Buch, das fesselt, weil hier einer Frau, die wir als Opfer ins Herz schließen, durch Männern Leid angetan wird; zu meinem eigenen Erstaunen habe ich es aber nicht als Torture Porn empfunden, sicher auch, weil Yong-Hye in ihrer zunehmenden Gleichgültigkeit und Selbstzerstörung eine Stärke behält, die auch von der geradlinigen Erzählweise der Autorin getragen wird. Ob ich sie, wie die Jury des Nobelpreises, als „intensiv poetisch“ empfunden habe? Sicher ist, dass der erste und der zweite Teil des Romans mich abgeholt und in doppelter Hinsicht mitgenommen haben – der dritte irritierte mich. Oder hat er mich intellektuell überfordert?

Ich wage nicht zu behaupten, DIE VEGETARIERIN verstanden zu haben, glaube aber ein paar Tage nach der Lektüre sagen zu können, dass ich den Roman mag. Ich bin definitiv froh, ihn durch die – bzw. in der – Übersetzung von Ki-Hyang Lee lesen zu können … und gespannt, wie sich meine Wahrnehmung des Textes verändern wird, wenn ich demnächst ein weiteres Buch der Autorin lese.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Han Kang: DIE VEGETARIERIN. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Aufbau Verlag, 2020