Von einer, die auszog, ein neues Leben für sich zu suchen

„An meine Tenniskarriere zurückzudenken ist so, wie wenn ich in Filmen über katholische Rituale stolpere. In der fünften Klasse wählte ich ungetauft den katholischen Religionsunterricht, weil ich damals nicht wusste, was das Fach Ethik sein sollte, und katholisch hatte ich immerhin schon mal gehört. Ich blieb sechs Jahre dabei. Seitdem kannte ich mich mit dem katholischen Glauben aus, es machte mich aber nicht zur Katholikin. So fühlte es sich an, über mich als Tennisspielerin nachzudenken.“

2020 hat die damalige Spitzensportlerin Andrea Petković mit ihrem Erzählungsband ZWISCHEN RUHM UND EHRE LIEGT DIE NACHT eindrucksvoll bewiesen, dass sie über ihre Kolumnen hinaus eine hervorragende Autorin ist – was möglicherweise die Frage aufwirft, warum ich nach meiner Begeisterung für das erste Buch fast ein Jahr gebraucht habe, um den im März 2024 veröffentlichten Nachfolger zu lesen.

In meiner damaligen Rezension habe ich voll clever erkannt, dass Andrea Petković den präzisen Blick und Biss der geborenen Entertainerin hat, die den engen Bezug zum Tennis über die Vermarktungmaschinerie hinaus eigentlich nicht braucht. ZEIT, SICH AUS DEM STAUB ZU MACHEN geht nun aber noch ein Schritt weiter, denn das vermutlich autofiktionale Buch dreht sich ausschließlich um ihren Abschied vom Profisport; warum sollte mich das interessieren? Jetzt, nach 215 mit wachsender Begeisterung gelesenen Seiten, weiß ich, dass ich manchmal echt keine Ahnung habe – und dieses Buch ein großes Vergnügen ist, auch für Menschen ohne jede Tennis-Grundbegeisterung.

MEHR ALS NUR ZWÖLF MONATE

Petković, zur Handlungszeit Noch-Spielerin und Doch-schon-Autorin, erzählt von einem Jahr, das ihr Leben verändert; ein Jahr, in dem das eine noch nicht ganz beendet ist und das andere eher zaghaft beginnt. Sie leidet nie – das Buch ist gleichzeitig emotionsgeladen und doch sympathisch unsentimental –, aber sie arbeitet sich, oft mit herrlichem Humor, durch Situationen und Verletzungen, sie euphorisiert gelegentlich und – und vor allem – sie reflektiert sich analytisch durch die letzten Monate ihrer Karriere und die Wochen danach. Wir sind dabei, wenn die Buch-Andrea (größeren Repressalien durch Imbiss-Schmuggel nur knapp entronnen) während der Pandemie-bedingten Isolation in einem australischen Hotelzimmer Bananen isst oder anderswo im Umkleidebereich nicht den Mut aufbringt, Serena Williams anzusprechen; wir fragen uns, was so toll sein soll an dem Männermodel, für das sie spontan einen Flug nach Stockholm bucht, und finden uns am Ende in einem Haus wieder, in dem zwei Männer und drei Frauen das perfekte Ensemble – oder eine Versuchsanordnung? – für einen Roman darstellen, den ich auf jeden Fall lesen möchte.

ZEIT, SICH AUS DEM STAUB ZU MACHEN ist eins der Bücher, dessen viele Eselsohren mich auch noch in einigen Jahren zielsicher an die besten Stellen führen sollen, die alle geeignet wären, am Anfang einer Rezension zu stehen. Noch dazu hat es mich geradezu gezwungen, eine besonders gelungene Beobachtung nach der anderen vorzulesen. Und auch, wenn ich diese Zuschreibung nicht mag: Andrea Petković hat ein Buch über Abschied, Trauer und eine gewisse Haltlosigkeit beim Ausbalancieren – nur knapp am Absturz vorbeiwankend – geschrieben, das zumindest mich Leser von geringem Verstand immer wieder mit einem Gefühl von Trost beschenkt hat.

Zugegeben: Petkovićs Hadern mit den eigenen Schwächen, die Allgegenwart dessen, was der große Alltagsphilosoph RuPaul als „inner saboteur“ viel funkyer umschreibt als das schnöde „Imposter Syndrom“, bietet für mich im Kontext eines fiktionalen Textes keinen Mehrwert – ich hätte das nicht gebraucht, um die Verletzlichkeit der Hauptfigur zu spüren, das Herantasten an eine Situation, die für sie nicht so kontrollierbar ist wie der tägliche Trainingsplan. Aber während ich darüber noch auf der handwerklichen Ebenen nachdenke, merke ich, wie ZEIT, SICH AUS DEM STAUB ZU MACHEN mich doch emotional um den Finger gewickelt hat.

DIESES BUCH BEWEIST: HUMOR MUSS NICHT IMMER LUSTIG SEIN

Das liegt vermutlich auch daran, dass die Andrea Petković, die in diesem Buch einen unerwarteten Triumph feiert, nüchtern über die Sollbruchstellen eines Hochleistungskörpers nachdenkt und am Ende in einer Herrentoilette lauthals lachen wird, eben nicht die Frau ist, die man aus den Sportnachrichten kennt (oder in meinem Fall: nicht kennt), sondern die Figur, die von einer talentierten Autorin so gut in Szene gesetzt wird, dass – erwähnte ich das schon? – ich ihren ersten Roman wirklich kaum erwarten kann.

Menschen, die etwas vom Tennissport verstehen, würden nun vielleicht der Versuchung erliegen, zum Abschluss ein „Spiel, Satz, Sieg!“ zu jubeln – ich belasse es bei Applaus, Applaus, Applaus.

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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Andrea Petković: ZEIT, SICH AUS DEM STAUB ZU MACHEN. Kiepenheuer & Witsch, 2024