Opulentes Nature Writing aus einer ungewöhnlichen Perspektive

„Aber was er […] eigentlich sagen wollte […] ist, dass Fortschritt nichts Materielles ist, sondern etwas Immaterielles, ein Gefühl von Abenteuer und Entfaltung, das im Bauch anfängt und sich in die Brust hocharbeitet (und oft im Kopf endet, wo es nur Schaden anrichtet). Ein Gefühl, das ihn hier oben fast die ganze Zeit begleitet, sowohl in den kleinsten als auch in den größten Momenten verspürt er in Bauch und Brust das Wissen um die tiefe Schönheit der Dinge, und was für eine unwahrscheinliche Gnade es ist, hier hochgeschossen worden zu sein, mitten ins Dickicht der Sterne.“

Eine Raumstation, sechs Menschen, 16 Umrundungen der Erde pro 24 Stunden mit beständigem Wechsel von Tag und Nacht. Dieses Buch wurde 2024 mit dem Booker Prize ausgezeichnet – und fast bin ich versucht, mich bei der Jury zu bedanken, weil ich den Roman dadurch entdeckt habe. Denn eigentlich interessiert mich das Thema, dem sich die britische Autorin Samantha Harvey auf gerade mal 221 Seiten widmet, gar nicht … und hat mich nun, ganz unerwartet, komplett in den Bann der Geschichte gezogen.

Chie und Anton, Pietro, Roman, Shaun und Nell: Harvey hat ihr Kammerspiel-Ensemble sorgsam komponiert – auch wenn die Figuren sich über die Zuschreibungen, die man über sie machen könnte, selbst amüsieren –, sie rückt mal die eine, mal die andere Person in den Mittelpunkt, ohne uns dabei viel über sie zu verraten. Wie hingetupft wirken ihre Gedanken und Erinnerungen: die Trauer um die Mutter und der Wunsch, ein Stück eines Knochens von ihr zu haben; die Erinnerung an die Begegnung mit einem „einfachen“ Fischer, die ganz sicher nicht – und vielleicht doch – mehr kolonialgeprägte Über- und Unterlegenheit beinhaltet als Augenhöhe; das Ende einer Ehe. Es sind alltägliche Dinge, die Harveys Figuren umtreiben, doch durch ihre bei aller Forschheit auch tastende Sprache und das Einfühlungsvermögen der Autorin schaffen sie einen Gegenpol zum Strahlen, Tosen, Glänzen und Rasen dessen, was die Raumfahrenden durch ihre Fenster beobachten können.

Als Leser von geringem Verstand bin ich anfällig für die Opulenz, die oft mit Natur Writing einher geht, aber es hat mich selbst überrascht, wie Harvey überbordende Liebeserklärung voller Farben und Lichter mich begeistert hat. Mein Verstand sagte zwischendurch durchaus „Ja, gut, ich hab’s jetzt verstanden“ … und dann habe ich mich wieder in den barocken Wirbel hineinziehen lassen, der auch bei der dritten, sechsten, neunten Wiederholung nichts von seiner Rauschhaftigkeit verloren hat. Erst gegen Ende, auf den letzten 20 Seiten, wurde es mir dann wirklich etwas zu viel … nur um jetzt, in der Rückschau, verblüfft festzustellen, dass ich gar nicht mehr genau weiß, warum.

Hat Samantha Harvey einen Roman über Raumfahrt geschrieben? Meiner Meinung nach nicht. „Wie grausam der Weltraum ist, denkst du, er will dich (wenn auch ohne böse Absicht, mit nichts als leerer Gleichgültigkeit) auf den Kopf stellen, dich kippen und killen, und du erinnerst dich, dass du nicht dagegen ankämpfen darfst, dich anpassen sollst“, schreibt sie an einer Stelle, aber den potenziellen, jenseits der Metallhülle lauernden Schrecken spart sie aus, auch wenn die körperlichen Auswirkungen der Raumfahrt sowohl an den Menschen als auch an den Labormäusen wichtige Thema sind. (Wie die Autorin es schafft, den kalten Umgang mit den für die Wissenschaft bestimmten kleinen Lebewesen so darzustellen, dass sich mir der Magen zusammenzog, und sie die Tiere dann in einem kurzen Moment über sich hinauswachsen lässt – ACH und HACH, das hat mich sehr bewegt.)

Harvey wählt das ungewöhnliche Setting vor allem, um Fragen in einem anderen Kontext zu stellen: Ist der Weltraum nun Beweis oder Gegenbeweis für die Existenz Gottes, welches Geheimnis verbirgt das berühmte Gemälde „Las Meninas“ („Die Hoffräulein“) von Diego Veláquez … und sind wir Menschen eigentlich alle komplett bescheuert? Über den Irrsinn, dass die russischen Kosmonauten und die restlichen AstronautInnen getrennte Toiletten benutzen müssen, kann man lachen, natürlich. Aber Samantha Harvey streift auch das Thema der Kriege und der Umweltverschmutzung, und stellt auch eine ganz persönliche Verbindung her zwischen dem begnadenten Forscherdrang, der Menschen den Weltraum öffnet, und seinem dunklen Bruder, der für Atomwaffen verantwortlich ist. „Bald ergreift sie alle ein Verlangen“, schreibt Harvey. „Das Verlangen, nein, das inbrünstige Bedürfnis, diese riesige und zugleich winzige Erde zu beschützen.“

(Natürlich muss die Übersetzung von Julia Wolf erwähnt – vermutlich gefeiert! – werden, die auch ohne Kenntnis des Originals einen höchst bemerkenswerten Eindruck hinterlässt. Danke dafür!)

Obwohl das, was im Buch passiert, gigantische Ausmaße hat (ein Mega-Taifun tobt über die Welt, was von oben betrachtet faszinierend, von unten erlebt mörderisch ist; ein Raumschiff landet auf dem Mond, was vor Jahrzehnten eine Sensation war, die unsere Welt in Atem hielt, und heute im Dröhnen anderer Spektakel und Ablenkungen fast untergeht), fühlte ich mich hin und wieder auf schöne Art an den Blick in ein Kuriositätenkabinett erinnert. Passiert viel in UMLAUFBAHNEN? Ja. Und Nein. Beides stimmt. Samantha Harvey hat ein Buch geschrieben, in dem sich die Protagonisten auf hoher Beschleunigung fliegen (oder stürzen) – und wir Lesenden trotz der sprachlichen Brandung, die uns umtost, zur Ruhe kommen. Ein Buch wie gemacht für das Ende des Jahres. Donnernd, leise … und auf eigene Art Hoffnung schenkend.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Samantha Harvey: UMLAUFBAHNEN. Aus dem Englischen von Julia Wolf. dtv, 2024