Ein Etikettenschwindel hat mich dazu verführt, dieses Buch zu lesen, das mir im Nachhinein besser gefällt als beim Lesen
„Wenn es Führungspersönlichkeiten geben soll, braucht es auch Leute, die willens sind, sich unterzuordnen. Unterordnungskompetenz hatte ich im Übermaß anzubieten, sie warteten nur darauf, geborgen zu werden. – Bis heute habe ich das Bedürfnis, jeden dicken Jungen in kurzen Hosen zu trösten. Ihm zu sagen, dass es besser wird.“
So, und da stand ich nun also in der von mir geschätzten schwulen Buchhandlung in Berlin, wild entschlossen, Umsatz zu generieren. Also habe ich mich spontan für BOX HILL von Adam Mars-Jones entschieden, einen gerade mal 138 Seiten umfassenden Band aus dem Albino-Verlag – und bin nun beim Lesen darüber gestolpert, dass mich der Umschlag und die ersten Seiten auf eine falsche Fährte geführt haben.
Hat sich Colin – zu schüchtern, zu dick, zu gefangen in sich selbst – seinen 18. Geburtstag so vorgestellt? Auf jeden Fall wird ein Traum für ihn wahr, als er 1975 beim Herumstromern rund um Box Hill, einem beliebten Ausflugsziel in der Nähe von London, im wahrsten Sinne des Wortes über Ray stolpert. Der prachtvolle Lederkerl ist 12 Jahre älter, packt sofort seine Genitalien aus und dann die Gelegenheit in zweifacher Hinsicht beim Schopf. So kommt es, das Colin noch am selben Tag bei der Testosteronbombe einzieht, zwischen 18 Uhr und 9 Uhr jedenfalls, denn tagsüber darf er nur in Ausnahmefällen in der Wohnung sein, so wie er auch nur selten im Bett schlafen darf. Aber im Schlafsack auf dem harten Boden ist es ja auch irgendwie schön, und wenn er außerdem noch regelmäßig die Stiefel seines Meisters mit der Zunge reinigen darf: What’s not to love?
Wer nun denkt, dass Adam Mars-Jones die Geschichte einer SM-Beziehung erzählt, der irrt – denn der britische Autor, dem der Guardian immerhin unterstellt, „das größte kleine Buch des Jahres“ geschrieben zu haben, fühlt sich Barbara Pym und Julian Barnes vermutlich näher als Tom of Finland. Und genau darin liegt die Schwäche, aber auch Stärke des von Gregor Runge ins Deutsche übersetzten Romans.
Colin, der dieses Geschichte in der Rückschau erzählt, als er die 40 bereits überschritten und „das AIDS“ die Welt verändert hat, bestaunt das, was ihm in seiner Jugend widerfahren ist, mit einem unschuldigen, dadurch aber auch unreflektierten Blick: Noch immer kann er nicht verstehen, was so ein „ganzer Kerl“ wie Ray an ihm gefunden hat (zumal er in der schwulen Welt mit seinem gnadenlosen Kastensystem nahezu unberührbar ist), noch immer denkt er mit einem Schulterzucken daran, wie er in der ersten gemeinsamen Nacht brutal vergewaltigt wurde – und rühmt Ray dafür, dass der es ja schließlich auch nicht zum „Vergnügen“ tat …
Der Autor macht es sich meiner Meinung nach zu leicht, indem er die Beziehung der beiden Männer, die immerhin sechs Jahre dauern wird, nur auf einige (sexuelle) Erniedrigungen reduziert, weil sie so – zumindest für mich Leser von geringem Verstand – wenig nachvollziehbar bleibt; das Colin nicht einmal Rays Nachnamen kennt, nun … Und braucht man heute wirklich noch ein schwules Buch, in dem zwei Männer den Archetypen einer patriarchal-heteronormativen Weltsicht entsprechen? Laut Klappentext, der irritierenderweise schon die Interpretationshilfe für den Text anbietet, „entlarvt [der Autor] mit einer charmanten Portion britischen Humors das Männerwelt-Idyll der ungebremsten Motorrad-Rennen, perfiden Machtspielchen und versauten Poker-Runden als Mythos von gestern“. Nun, das kann man so sehen. (Schauernd stelle ich mir allerdings die Frage, ob diese Mythen heute wieder very on vogue sind im Genre der von Frauen für Frauen geschriebenen Dark-Romance-Romane …)
Auch wenn ich den Humor eher nicht gefunden habe, konnte mich BOX HILL nach dem enttäuschten Zuklappen dann aber doch im Nachgang noch von sich überzeugen – denn anders, als der Umschlag vermuten lässt, geht es hier eben weniger um Lederkerle und SM, sondern um das Gegenüberstellen von zwei (Extrem-)Beziehungen: der von Colin und der seiner Eltern. Denn bei Mum und Dad sind die Machtverhältnisse alles andere als klar definiert, in gewisser Weise fließend, und eben nur vordergründig alltäglich.
BOX HILL erzählt davon, was Menschen sich antun, die zusammengehören, auch wenn die Frage offen bleibt, welcher Spielart von Liebe sie entsprechen (oder eben auch nicht). Der Roman entführt uns in eine Zeit, in der Gewerkschaftszugehörigkeit noch als ultimatives Schimpfwort benutzt wurde, lässt uns zumindest hin und wieder ahnen, was für Colin der Kick daran ist, das willenlose Objekt von Ray zu sein, und hat dabei diese britische Verdruckstheit, die mich auch in den Romanen der eingangs erwähnten Barbara Pym in gleichem Maße nervt und amüsiert.
„Buchsbaumblätter wachsen gegenständig. Gegenständig heißt, dass sie einander gegenüberstehen“, wird uns an zwei Stellen des Romans erklärt, und dass die Blätter „ganzrandig“ sind, also einen glatten Rand haben, keinen gekerbten oder gezähnten. Nun: Ein bisschen mehr Kerben und Zähne hätte ich mir von BOX HILL auf jeden Fall gewünscht. Was bleibt? Erstaunlicherweise doch eine gewisse Sympathie für die Hauptfigur, der man wünscht, dass der Märchenprinz doch noch kommt, wenn auch nicht auf einem Motorrad.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Adam Mars-Jones: BOX HILL. Aus dem Englischen von Gregor Runge. Albino Verlag, 2024
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