Ein Debütroman, der zu Unrecht untergegangen ist und es verdient, entdeckt zu werden
„Ich treibe mich herum in dieser Küche, die in ihren letzten Jahren fast nur sie betreten hat. Handgriffe ohne Hoffnung. Den Teller auf den Tisch stellen, die Gabel dazulegen und sich hinsetzen ohne Ziel. Kauen und schlucken, atmen und vergehen. Ich gehe von dieser Küche aus mit Nina die Stationen ab, die sie gegangen ist, und erzähle mir die Geschichten, die sie mir nicht erzählt hat.“
Was bleibt vom Leben eines Menschen? Manchmal sind es dreißig Zwanzig-Kilo-Säcke alter Habseligkeiten, die aus einer Wohnung zum Müll geschleppt werden, und die paar Dinge, die noch für andere von Nutzen sein können; im Idealfall sind es Geschichten, die nachhallen, weil der Mensch, mit dem sie verbunden sind, geliebt wurde, gesehen, mit Aufmerksamkeit bedacht (und nicht notwendigerweise immer verstanden und geachtet) … und auf jeden Fall erinnerungswürdig ist. So eine Frau ist Nina, deren in Deutschland aufgewachsene Enkelin Walja sich auf Spurensuche macht in Kasan, einer russischen Stadt an der Wolga, und in der überlieferten Familiengeschichte.
In ihrem literarischen Debüt DAS PFERD IM BRUNNEN erzählt die Schauspielerin Valery Tscheplanowa mit der großen Wucht eines leise gesprochenen Bühnenmonologs von den Frauen ihrer Familie – von Urgroßmutter Tanja, Großmutter Nina, Mutter Lena – und dem ein oder anderen Mann, der eine (zumeist untergeordnete) Rolle spielt; von der Sehnsucht nach einem besseren Leben und dem Haar eines verstorbenen Mädchens, von Goldzähnen, in Pflege genommen Katzen, davon, dass es immer einen letzten Menschen gibt, den wir vor der Stunde unseres Todes sehen, von Liebe, Streit, dem Toben in einem verschlossenen Zimmer und – durchaus wichtig – von Bratkartoffeln. Es mangelt diesen gerade einmal 190 Seiten zwar an einer durchgehenden Romanhandlung, zumal Tscheplonawa ohne nachvollziehbaren Faden in der Zeit vor und zurück springt, aber ganz sicher nicht an Inhalt und an unzähligen Momenten, die von rauer Schönheit sind.
Manche der Kapitel, die allesamt auch als Kurzgeschichten funktionieren, haben Humor, wenn es um das Anstehen vor einem Laden geht, wo statt 30 Eiern schließlich 90 gekauft werden (geradezu gekauft werden müssen!), manche scheinen sich eher zufällig ins Buch verirrt zu haben wie die Odyssee der heiligen Muttergottes von Kasan; es gibt auch einige, die mich beim Lesen trotz des hohen sprachlichen Niveaus und der nie zu leugnenden Eindringlichkeit fast ein wenig gelangweilt haben. Aber kaum hat man die letzten beiden – und meiner Meinung nach brillanten – Kapitel atemlos beendet, möchte man sofort wieder von vorne beginnen, um den Spuren von Nina noch einmal – und noch intensiver – nachzuspüren.
Ist dieses Buch zwischen all den Erfolgen des Herbsts 2023 möglicherweise untergegangen? Wenn dem so ist, dann wäre dies bedauerlich, denn DAS PFERD IM BRUNNEN verdient es, entdeckt, mehrmals gelesen und geliebt zu werden.
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Ich habe dieses Buch von einer Freundin geschenkt bekommen, die beim Verlag arbeitet; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Valery Tscheplanowa: DAS PFERD IM BRUNNEN. Rowohlt Berlin, 2023
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