Von vielen geliebt, von mir leider nicht verstanden

„[Mein Vater] sagt, mit dem Krankenhaus sei es wie mit einem Kraken. Nähert man sich ihm, greift er mit seinen Tentakeln nach einem und lässt nicht mehr los. Er hat nicht ganz unrecht.“

Er hat sein Leben lang hart gearbeitet in Deutschland, dann ist er in die Türkei zurückgekehrt, hat eine neue Liebe und die Hoffnung, dass nun der schöne Teil des Lebens beginnt – doch als er jetzt seine zweite Heimat besucht, um sich von der Mutter der erwachsenen Kinder scheiden zu lassen, bekommt er die Diagnose Lungenkrebs. Eine Rückkehr in die Türkei ist ausgeschlossen, denn er hat nur in das deutsche Gesundheitssystem eingezahlt, in dem er immer weiter zu verschwinden droht …

Mit HERR KIYAK DACHTE, JETZT FÄNGT DER SCHÖNE TEIL DES LEBENS AN hat Mely Kiyak einen eindringlichen, seinem (Titel-)Helden zugewandten, aber auch borstigen Roman geschrieben – und obwohl man eine autobiographische Note vermuten kann, ist es der Autorin laut einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung wichtig, den Text von ihrer Person zu trennen. Was es für mich einfacher macht, meine Gedanken zu ordnen, denn während es mir nicht zusteht, persönliche Erlebnisse zu kritisieren, kann ich einen fiktiven Text natürlich in Frage stellen … und sagen, dass ich mir nach der großartigen ersten Seite, die ich gleich zweimal begeistert im Buchladen las, mehr versprochen hatte.

Herr Kiyak liebt es, Geschichten zu erzählen, und gerade weil sie oft einen Hauch von Räuberpistole haben, ist es ein Vergnügen, diese eingerückten Kapitel zu lesen (auch wenn das, was er beispielsweise über seine Zeit als Kurde beim Militär berichtet, alles andere als erbaulich ist). Das gilt auch für den Rest der 222 Seiten: Kiyaks klarer, geradliniger Erzählstil und ihre zunehmende Verzweiflung haben mich tief in die Geschichte gesogen und dabei immer wieder bewegt innehalten lassen.

Es ist eine sehr persönliche – und sicher individuelle – Geschichte, aber natürlich von einer gewissen Allgemeingültigkeit, denn die allermeisten von uns werden eines Tages Abschied von den Eltern nehmen müssen. Ohne große Effekthascherei arbeitet Kiyak heraus, wie aus dem Kind, das sich durchaus lustig machte über den Vater, diejenige wird, die sich um ihn kümmern muss, und wie eine Frau, die bisher trittsicher im Leben stand, in der emotionalen Extremsituation ins Straucheln gerät. Wenn sie dabei wiederholt über das kaltherzige – fast schon diabolische – Krankenhauspersonal herzieht und kein gutes Haar an den Ärzten lässt, ist das natürlich Futter für Ängste, die sicher viele von uns davor haben, auf diese Art ausgeliefert zu sein … und ich kann nicht sagen, ob mich diese Passagen gestresst haben, weil ich nicht hinsehen will, oder ob das alles wirklich zu gallig geraten ist (die Rezensentin des Deutschlandfunks empfand diese Stellen übrigens als humorvoll – nun, ich lache lieber mit Sonne im Herzen statt dem gewetzten Messer in der Hand).

Als Leser von geringem Verstand lag es für mich nah, Mely Kiyaks Roman in eine Reihe zu stellen mit den von mir sehr geschätzten DSCHINNS von Fatma Aydemir und VATERMAL von Necati Öziri, denn auch dort wird gestorben, auch dort wird erinnert … und diesem vermutlich wenig gerechten Vergleich hält HKDJFDSTDLA in meiner Lesart leider nicht stand. Kein schlechtes Buch, wirklich nicht, aber eins, an das ich mich vermutlich ebenso wenig erinnern werde wie an die nur als Staffage im Raum stehenden Nebenfiguren, die keine Namen tragen, sondern nur nach ihrer Stellung im Familienkonstrukt benannt sind. Schade.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Mely Kiyak: HERR KIYAK DACHTE, JETZT FÄNGT DER SCHÖNE TEIL DES LEBENS AN. S. Fischer Verlag, 2013; Neuausgabe im Carl Hanser Verlag, 2024