Wie viele große Verlage beißen sich gerade in den Arsch, weil ihnen der kleine Kjona dieses Buch weggeschnappt hat?

„Gehen Sie nie davon aus, dass jemand Ihnen die Wahrheit sagt – nicht einmal sie selbst. Es gibt keine echte Wahrheit, nur eine juristische. Vertrauen Sie nicht Ihrem Bauchgefühl, sondern Ihrem juristischen Instinkt. Wenn Sie glauben, Sie wüssten, was passieren wird, liegen Sie falsch.“

Als Tessa Ensler dies zu Beginn ihres Jurastudiums hört, weiß sie nicht, dass es ihr Glaubensbekenntnis werden soll – und dafür sorgen wird, dass sie jeden Glauben zu verlieren droht. Doch bis dahin liegt ein kometenhafter Aufstieg vor ihr: Die junge Engländerin aus problematischen Verhältnissen wird zu einer der besten Strafverteidigerinnen, von KollegInnen bewundert, von der anderen Seite des Prozessgeschehens gefürchtet. Sie glaubt fest daran, dass jeder Mensch das Recht auf bestmögliche Verteidigung hat … und wenn das bedeutet, dass sie ein Vergewaltigungsopfer vor Gericht dazu bringen muss, Unsicherheiten und Widersprüche einzuräumen, tut sie es, ohne zu zögern, um ihren Mandaten vor einem Schuldspruch zu bewahren.

Haben wir uns alle schon die Frage gestellt, wie sich das anfühlen mag, vor Gericht jemanden zu verteidigen, dessen Schuld außer Frage steht? Suzie Miller gibt darauf keine allgemeingültige, aber eine aus dem juristischen Codex heraus überzeugende Antwort, und bettet die so folgerichtig in die Lebensgeschichte ihrer Hauptfigur ein, dass wir Tessa vermutlich auch durch den schlimmsten Prozess folgen würden, ohne die Sympathie für sie zu verlieren. Umso mehr ist es eine Herausforderung, wenn man die ganze Zeit weiß, was sie erwartet: Tessa wird selbst zum Opfer, und nichts, was sie selbst auf der anderen Seite des Gerichtssaals erlebt hat, kann sie darauf vorbereiten, was ihr im Zeugenstand passiert.

PRIMA FACIE ist in einer einfachen, direkten Sprache geschrieben, und die relative Nüchternheit – die sich zwischenzeitlich lockert, wenn ein feuchtfröhlicher Abend in einer Bar beschrieben wird oder Tessas Liebe zu ihrem Wohnviertel – macht einen großen Reiz des Romans aus. Die Übersetzung von Katharina Martl hinterlässt einen hervorragenden Eindruck und lädt ein, durch die 346 Seiten zu fliegen.

Wollte man diesem Debüt einen Vorwurf machen, dann könnte man anmerken, dass die Mechanik der Geschichte deutlich nach vorne tritt und man auf den ersten 180 Seiten sehr genau sieht, wie Miller die Weichen stellt für alles, was danach passieren wird. Doch das fällt meiner Meinung nach ebenso wenig ins Gewicht wie mein Eindruck, dass sich Tessa in ihrer Gerichtsverhandlung zu stark in den Fallstricken des Verhörs verfängt; das alles ist in sich stimmig und spielt hervorragend mit der Wechselwirkung von Dominanz und Ohnmacht. Wie bereits angedeutet geht es auch stark um das Thema Klasse und Herkunft – und die Einblicke in die britische Gerichtswelt mit ihren Perücken und anderen Anachronismen runden das Leseerlebnis perfekt ab.

Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, wird mit verbundenen Augen und den beiden Waagschalen dargestellt; für den gelungenen, vielleicht im Druck etwas dunkel-vermauschelten Einband von PRIMA FACIE hat sie Jupiter seinen Blitz entrungen. Die Wut, die so dargestellt wird, empfindet man auch, wenn man diesen Roman liest, und umso mehr ist Suzie Miller zu rühmen, dass sie nie einfache Antworten gibt. Denn wer Blitze schleudert, der spricht kein Recht, und wer kein Recht spricht, hat keinen Platz in der Welt der großartigen Tessa Ensler.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Suzie Miller: PRIMA FACIE. Aus dem Englischen von Katharina Martl. Kjona Verlag, 2024