Dieses Buch versucht gar nicht, sich leicht erschließen zu lassen – und ist gerade deswegen ein Vergnügen.
„Meine Erinnerungen sind alle von meinen Lektüren verstellt, überlagert und angefüllt, sodass ich ihnen inzwischen gar nicht mehr traue und die dennoch in Ehren halte, schließlich bleibe es meine Erinnerungen. Vor ein paar Tagen sollte ich jemandem von meinem Aufenthalt in Rom erzählen, als ich Anfang 20 zwar. Ach, sagte ich, inzwischen weiß ich überhaupt nicht mehr, was in Rom wirklich passiert ist, ich weiß nur, dass mir sehr genaue, sehr detailreiche Bilder in Erinnerung geblieben sind, die ich Ihnen bis zum Überdruss schildern könnte, aber mir ist auch bewusst, dass diese Bilder so beschaffen sind wie meine Romane. Na und, sagte diese Person, die mich für eine Literaturzeitschrift befragte, es sind doch Ihre Erinnerungen, wir verlangen nicht, sie zu überprüfen, wir sind nicht die Polizei.“
Fangen wir mit dem publikationsgeschichtlichem Gehüpfe an: Die französische Autorin Anne Serre hat bereits 15 Bücher veröffentlicht, von denen bisher nur das erste und das zuletzt erschienenen ins Deutsche übertragen wurden: 2023 das schwebend leichte und nicht ganz in der Realität verankerte Debüt aus dem Jahr 1992, DIE GOUVERNANTEN, das ich zu meinen Jahreshighlights zähle – und davor 2022 IM HERZEN EINES GOLDENEN SOMMERS, zwei Jahre zuvor in Frankreich mit dem renommierten Prix Goncourt in der Sparte „Kurzgeschichten“ ausgezeichnet. Der deutsche Verlag nennt den schmalen, allem Anschein nach grandios von Patricia Klobusiczky übersetzten Band ein „raffiniertes, spielerisch leichtes Selbstporträt in 33 Facetten“. Liegt er damit richtig?
Nein. Vielleicht … Ja?
Natürlich werden wir Lesende auf die falsche Fährte geführt, erfahren zunächst etwas über die Mutter der (oder einer) Erzählerin, über den Vater und die Schwestern, allesamt intime Momentaufnahmen wie nicht ganz farbechte Polaroids; später nimmt sie uns mit, wenn sie sich auf den Weg macht, einen Verleger zu erschießen, wir lernen eine Korrektorin kennen, mit der sie arbeitet, und im vielleicht hinreißendsten Kapitel ihr deutsches Dienstmädchen, das seine Einzigartigkeit liebt. Dazwischen finden sich Texte wie der über eine öde Urlaubspostkarte, dessen Motiv möglicherweise vor verborgenem Leben sprüht, Gedanken über das Träumen und Fremdgehen. Und dann ist da auf einmal eine Geschichte, in der die Erzählstimme einem Mann gehört; an anderer Stelle heißt die Figur, die zu uns spricht, nicht Anne wie auf dem Cover, sondern Ariane.
IM HERZEN EINES GOLDENEN SOMMERS ist eine in den allermeisten Fällen hinreißende Miniaturen-Sammlung, durch die man atemlos fliegen kann; man sollte sich aber die Zeit nehmen, sie ganz langsam zu genießen, was wirklich lohnt und die eigenen Gedanken tanzen lässt. Stets bewegen wir uns auf schwankendem Boden, nie dürfen wir der Erzählstimme glauben: Anne Serre spielt mit der Realität, mit kleinen Verschiebungen, mit Vorausblicken, die vielleicht nur Spekulation sind. Sind es die Facetten einer Frau, die spielerisch in andere Rollen schlüpft, um sich selbst zu erleben (oder auszudrücken), oder einfach nur Kurzgeschichten, inspiriert von ersten Sätzen aus den Werken anderer AutorInnen, wie es das Quellenverzeichnis am Ende verrät … oder ist es gar ein – möglicherweise gar ironisches – Spiel mit dem Genre der Autofiktion, das sich heute so großer Beliebtheit erfreut, ohne den Anspruch auf Faktentreue zu erheben?
Als Leser von geringem Verstand will ich das gar nicht einordnen, habe die Lektüre aber genossen und als bereichernd empfunden – und hoffe sehr, dass weitere Werke der Autorin bei Berenberg veröffentlicht werden.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Anne Serre: IM HERZEN EINES GOLDENEN SOMMERS. Aus dem Französischen von Patricia Klobusinczky. Berenberg Verlag, 2022
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