Für mich ein ganz besonderes Jahreshighlight: Zora del Buono sucht den „Töter“ ihres Vaters – und findet Trost

„Das glaube ich auch, sage ich. Der arme Mann. […] – Dich hat deine Recherche auch verändert, sagt Munz.“

Wirft man einen Stein ins Wasser, geht er unter und gerät vielleicht außer Sicht, aber die kreisförmigen Wellen, die über die vorher glatte Oberfläche laufen, werden weiter und weiter und weiter. Daran musste ich immer wieder denken, während ich mich von SEINETWEGEN begeistern ließ, diesem Buch, das auch den Charme einer Wunderkammer oder eines Kuriositätenkabinetts hat. Und das, so oder so, ein großes, eindringliches und ungewöhnliches Lesevergnügen ist.

Die Schriftstellerin Zora del Buono ist acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall ums Leben kommt; nun, sechzig Jahre später – und damit konfrontiert, dass ihre Mutter in die Demenz hineindämmert –, macht sie sich auf die Suche nach „dem Töter“, jenem Mann, der damals den anderen Wagen steuerte. Ein „Charakterdefekter“, wie in einem Leserbrief an eine Zeitung geschrieben wurde, ein Tunichtgut muss diese Person sein, von der del Buono zunächst nur die Initialen kennt, E und T. (Und schon hatte ich Leser von geringem Verstand einen ersten Moment von Irritation: E.T., das ist doch der freundliche, verlorengegangene Außerirdische, der sich sehnlich wünscht, nach Hause zu kommen?)

SEINETWEGEN ist das autofiktionale Protokoll einer Spurensuche, eine Geschichte über das Abweichen, vielleicht Ausweichen, über Assoziationen und ein allgegenwärtiges „everything is connected“ – und so recherchiert die Autorin auch über die Entstehungsgeschichte des VW Käfers und über die Herkunft des Begriffs „Totenvogel“, um das Blickfeld immer mehr zu weiten. Das, was zu Beginn fast übersprunghaft wirken kann, ist eine Erzählhaltung, die mich vollumfänglich begeistert: Auf 202 Seiten erfahren wir so auch viel über den Umgang mit Trauer, über Fremdenfeindlichkeit, über komplexe Familienbeziehungen und die Grausamkeiten, die eine Gesellschaft an Frauen verübt.

Manche dieser Gedankensprünge haben fast eine skurrile Note – wenn festlich geschmückte Kühe der Übergang sind zum Glitter und Flitter im schwulen Berlin der Wendejahre –, aber sie alle dienen dem Zweck, die Autorin einerseits zu jenem Ernst Traxler zu führen, der ihr Leben unwissentlich in eine bestimmte Bahn lenken würde, und andererseits und darüber hinaus zu sich selbst. Es wäre falsch, SEINETWEGEN als die Geschichte einer Selbstfindung zu charakterisieren (wer so schreibt, der kennt sich selbst besser als eine allwissende Archivarin), und doch scheint die Erzählerin, von der wir uns auf der letzten Seite nur widerstrebend verabschieden, eine andere zu sein als jene, die zu Beginn bei einem ersten von zahlreichen über den Text verteilen „Kaffeehausintermezzos“ mit FreundInnen spricht.

SEINETWEGEN ist ein Buch, das dazu einlädt, einen Superlativ an den anderen zu reihen, weil man nahezu auf jeder Seite etwas findet, an das man sich erinnern möchte. Zora del Buono spielt virtuos mit unseren Gefühlen, sie wirft uns in tiefe Trauer, stachelt unsere Wut auf, sie schenkt uns intime Einblicke und lässt uns ohne jeden Gefühlskitsch daran teilhaben, wie es sich anfühlt, den nie gekannten Vater auf einmal in kurzen Bewegtsequenzen zu sehen. Dass am Ende die Entscheidung steht, einen Umschlag nicht zu öffnen? Ich hätte toben und aus der Haut fahren können! Und gleichzeitig ist es ein schlauer dramaturgischer Schachzug für das Buch … und, so dies nicht nur dem fiktionalen Teil der Geschichte entspringt, vermutlich auch eine weise Entscheidung.

SEINETWEGEN steht zurecht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, und wenn es nach mir ginge, hätte das Buch einen sicheren Platz auf der Shortlist. Und wenn es den nicht bekommen sollte? Bleibt es einfach eins meiner Jahreshighlights, mit Extrasternchen.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Zora del Buono: SEINETWEGEN. C.H. Beck Verlag, 2024