Ein Familienroman aus Norwegen, der den Bogen schlägt zwischen der Galligkeit einer Yasmina Reza und einer deutschen Filmkomödie

„Im Büro beschwerte ich mich in der Mittagspause gern über den Norwegischen Rundfunk, in diesen Unterhaltungssendungen dachten sie sich so viel Blödsinn aus […]. Erst später habe ich verstanden, wie sehr uns das einte: Dass alle dasselbe sahen; zu wissen, dass in ganz Norwegen die Leute genau wie wir in ihren Wohnzimmern saßen und gleichzeitig dieselbe Sendung guckten. […] Wir sind zu viel allein, sage ich immer, wie haben alles vergessen, was uns verbindet.“

EIGENTLICH BIN ICH NICHT SO, das ist der Titel des neuen Romans der norwegischen Autorin Marie Aubert, und er ist weit mehr als nur eine Formulierung auf dem (nebenbei bemerkten sehr hübschen) Schutzumschlag: Es ist die Quintessenz dessen, was die Protagonisten dieses kurzen, aber starken Familienromans als Selbstwahrnehmung vor sich hertragen – und damit möglicherweise nicht ganz richtig liegen.

Die auf gerade einmal 204 augenfreundlich gesetzten Seiten erzählte Geschichte lässt sich in einem – wenn auch langen – Satz zusammenfassen: Zur Konfirmation der 14-jährigen Linnea haben ihr Vater Bårt und seine Frau FreundInnen und Familie eingeladen, darunter Bårts Schwester Hanne, die aus Oslo mit mehreren Kleidergrößen weniger als früher anreist, dafür aber mit einer neuen Lebensgefährtin, sowie ihren nach der zweiten Scheidung alleinlebenden Vater Nils – und obwohl sich offiziell alle freuen, einander zu sehen, ist die Wahrheit eine andere.

In alternierenden Kapiteln kommen die vier ProtagonistInnen als Erzählende zu Wort und lassen uns durch ihre Ich-Perspektiven schon von der ersten Seite an ahnen, dass es um das Wir-Gefühl in dieser Familie nicht gut steht: Linnea ist pubertär verzweifelt, weil ihre angehimmelte beste Freundin nichts mehr von ihr wissen will; Nils fühlt sich vom Leben enttäuscht und von seinen Kindern allein gelassen; Hanne hat nicht nur viele Klamotten, sondern noch mehr Komplexe im Gepäck, und Bårt … herrje, was für ein Lappen ist eigentlich dieser Bårt?

Als Leser von geringem Verstand bin ich Marie Aubert zunächst auf den Leim gegangen und habe mich von ihr mit einiger Wonne gegen diesen Typ aufbringen lassen, der vom intriganten Muttersöhnchen zum selbstmitleidigen Midlife-Krise-Fremdgeher geworden ist – und genau so stark habe ich mich mit Hanne identifizieren können und mitgelitten, weil sie immer noch Witze über ihre Figur machen muss, auch wenn es heute nicht mehr darum geht, anderen die Verachtung zu erleichtern.

Aber so einfach macht Aubert es uns nicht: War Hanne als Kind vielleicht Opfer und Täterin in einer Person, weil sie mit spitzer Zunge zu Angriffen überging, die mehr waren als reine Verteidigung? Wer sich je in seiner alten Heimat fremd gefühlt hat, gerade weil die neue Persönlichkeit nicht mehr zu den früheren Mustern passt, wird Hanne ins Herz schließen … sich aber gleichzeitig fragen, ob ihre Selbstzweifel eine Waffe sind, die sie wirklich nur gegen sich selbst zum Einsatz bringt.

Und Bårt, der Lappen? Aubert verlangt nicht von uns, sein Verhalten zu entschuldigen, und es gibt wirklich wenig Grund, ihm Sympathie entgegenzubringen – und doch beginnen wir zu ahnen, warum er früher wie heute mit seiner Rolle im damaligen wie gegenwärtigen Familienverband gehadert hat. Ist die Erkenntnis, dass wir gar nicht so anders sind als die Eltern, von denen wir uns mal mehr, mal weniger gut abgenabelt haben, vielleicht die schmerzhafteste im Leben?

Was alle vier Hauptfiguren eint, ist der Wunsch nach Stabilität und Zugehörigkeit, die Hoffnung, gesehen und geliebt zu werden. Etwas ganz Einfaches, möchte man denken, und doch ein Durst, der sich nicht immer stillen lässt; manchmal steht man dann eben doch im Supermarkt und kauft eine Packung Toilettenpapier mit 24 Rollen, weil dies das Einzige ist, was man tun kann, um in diesem Moment so etwas wie Sicherheit ins Leben zu bringen.

Ich habe den von Ursel Allenstein und Stefan Pluschkat fließend aus dem Norwegischen übersetzten Roman mit großem Vergnügen gelesen – blieb am Ende aber kurz mit einem leichten Gefühl von Enttäuschung zurück, weil ich mir zum Abschied doch etwas mehr Hollywood gewünscht hätte. Wie gut, dass ich den Roman parallel gelesen habe mit einer lieben Bekannten bei Instagram, die mich noch einmal an den Titel des Buchs erinnert hat: EIGENTLICH BIN ICH NICHT SO schafft es, ganz eindeutig zu sein – und doppelbödig zugleich.

Ein bisschen böse, ein bisschen weise – oft mehr zwischen den Zeilen als im Text selbst – und ein bisschen wunderbar: Manchmal sind es nicht die Superlative wie „sehr toll“ und „absolut bahnbrechend“, die einen Roman zum empfehlenswerten Vergnügen machen, sondern die Einschränkungen und die Brüche. Und wenn das nicht – so irgendwie – auch eine gute Definition dessen ist, was uns allen oft in unserem Alltag widerfährt, nun, dann weiß ich auch nicht …

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Marie Aubert: EIGENTLICH BIN ICH NICHT SO. Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein und Stefan Pluschkat. Rowohlt Hundert Augen, 2024