Dieser Roman hätte das Zeug zum Hauptgewinn – ist es meiner Meinung nach aber leider nicht geworden

„Irgendwo im hintersten Eck meines Kleiderschranks liegt ein alter Laptop. Ob der sich noch anschalten lässt? […] Kurz bleibt mir das Herz im Hals stecken. Da bist du drin. Da sind wir alle drin. – Klicke mich durch die Ordner, auf der Suche. Jahre von Bildern, Jahre und Erinnerungen. Stimmen, die plötzlich wieder durch die Wohnung klingen. Ich erinnere mich, dich vergessen zu haben.“

Es gibt Bücher, die treffen Lesende ins Herz, andere lassen sie kalt. Die einen haben so sehr recht wie die anderen; es ist eine Frage des Geschmacks, der Haltung beim und zum Lesen. Und so ist eine schlaue Freundin von mir begeistert von Rasha Khayats neuem Werk … und ich sitze ratlos vor ICH KOMME NICHT ZURÜCK. Wer sich selbst eine Meinung bilden möchte, möge nun nicht weiterlesen, denn: Spoilers ahead. Und ja, ich verstehe, warum man sich auf diesen 171 Seiten immer wieder verlieben kann in die Geschichte und ihre Figuren. Aber ach, es wollte mir nicht gelingen.

Der Verlag hat den Rückseitentext mit EINE FREUNDSCHAFT AUF LEBEN UND TOD überschrieben, was hübsch donnert – aber Rasha Khayat erzählt eine in weiten Teilen undramatische, möglicherweise standardisierte Coming-of-Age-Geschichte. Mitten im Ruhrpott sind Hanna, die bei den Großeltern aufwächst, und Cem beste Kindheitsfreunde, als sie Zeyna begegnen, die noch kein Wort Deutsch spricht, aber schnell zu Hannas engstem Bezugspunkt wird; nicht ganz unschuldig daran ist Zeynas herzensguter und verwitweter Vater Nabil, bald bester Freund von Hannas Großvater. So findet eine Wahlfamilie zusammen, in der die Kinder behütet heranwachsen, bis es zu zwei einschneidenden Ereignissen kommt: Zuerst macht der 11. September 2001 aus Zeyna, Cem und ihren Eltern geächtete Außenseiter, aber es ist vor allem DAS UNAUSSPRECHLICHE, das dafür sorgt, dass Zeyna nie wieder mit Hanna sprechen will, die sich sowieso in Grund und Boden schämt.

Nun aber, nachdem bereits ihr Großvater verstarb (Wichtig! Merken!), ist auch Hannas Großmutter beerdigt worden. Hanna ist in die Wohnung ihrer Kindheit gezogen, und hier vegetiert sie vor sich hin, unfähig, aus der Entwurzelung hinaus zurück ins Leben zu finden. Cem versucht, ihr zu helfen, aber der ist inzwischen mit einer ganz und gar langweiligen Frau glücklich, also wirklich (um Hanna zu zitieren: „Nur mit Mühe verkneife ich mir ein Lachen.“). Hanna beginnt, sich nach Zeyna zu sehnen, sie versucht, über deren Vater (Wichtig! Merken!) Kontakt aufzunehmen, aber ahnt schon, dass das schwer wird, denn: „Meine Schuld, meine Scham.“

ICH KOMME NICHT ZURÜCK liest sich leicht und entspannt, denn die meisten Erinnerungen von Hanna sind lichtdurchströmt. Und wird es doch einmal dramatisch, wenn Zeyna – von einem Lied an ihre im Krieg gestorbene Mutter erinnert – ins Meer marschiert, um sich zu ertränken, ist das zwar gut geschrieben und liest sich mit Nachhall, taucht im weiteren Verlauf der Geschichte aber nicht wieder auf. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass Khayat sich zwar aus einem Schatz erzählerischer Perlen bedient – so gibt es ein Kapitel, das nur aus dem sich wiederholenden Satz „Ich will, dass sich jemand erinnert mit mir“ besteht –, diese aber stets nur einmal auffädelt, um sich dann anderen emotionalen Effekten zuzuwenden. So wird beim Einsturz des World Trade Centers aus dem sich wiederholenden „Und dann fielen sie zusammen. In aller Stille“ ein „Und wir fielen zusammen. In aller Stille.“; eindringlich, ja, aber sofort überlagert mit Zeynas dunklen Ahnungen für die Zukunft: Während die anderen noch geschockt schauen, lacht sie bitter, sagt „Jeder bekommt, was er verdient“ … und meint letzteres wohl auch auf sich bezogen?

Natürlich bewege ich mich als Deutscher ohne Migrationsgeschichte auf dünnem Eis, wenn ich sage, dass ich das Folgende als überspitzt empfunden habe – denn aus dem Mädchen, das gerade noch als Star der Theatergruppe als „Lady McBeth“ (?) auf der Bühne beklatscht wurde, wird über Nacht die Terrorverdächtige, von der sich die alten Damen im Friseursalon nicht mehr bedienen lassen (was von ihrer Chefin ebenso hilf- wie kommentarlos akzeptiert wird); das Taxi ihres Vaters wird mit Hakenkreuzen beschmiert, die Fensterscheiben des Ladens von Cems Eltern werden eingeworfen, die Briefkästen mit Kot gefüllt. Natürlich will ich nicht sagen, dass es so etwas nicht gegeben hat; in vielen Städten haben wir gesehen, was nach dem 7. Oktober 2023 geschehen ist. Aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass diese Schwarzweißzeichnung vor allem dazu dienen soll, eine Fallhöhe für die Figuren zu schaffen, denn Zeyna konfrontiert Hanna damit, das sie das alles sowieso nicht verstehen kann; IN EINER WELT, DIE KIPPT, wie der Verlag die bereits zitierte Rückseitentext-Headline abschließt, ist kein Platz für Graustufen.

Immerhin, Zeyna sattelt von der Friseurin zur Krisengebietsfotografin um und bereist fortan die Welt, und obwohl der Bruch zwischen den Freundinnen kein kleiner war, finden sie wieder zusammen – jedenfalls bis zum Tod von Hannas Großvater. Zeynas Vater droht am Verlust seines besten Freundes zu zerbrechen, und natürlich versteht es sich von selbst, dass Hanna sich um ihn kümmert, während Zeyna auf eine weitere Fotoreise entschwinden muss. Und jetzt … man spiele dramatische Musik ein … passiert DAS UNAUSSPRECHLICHE: Nabil und Hanna, diese beiden durch den Verlust gebrochenen Seelen, sehen sich einen Moment zu lang an – sie sinken sich in die Arme – sie suchen Halt, einen Moment des Vergessens … und schlafen miteinander. Obwohl es im Text nie auch nur einen Hauch von Hinweis auf irgendeine Anziehung zwischen den beiden gab, fand ich diesen Moment schön, bewegend … ahnte aber: Ach, das wird es nun wohl sein, DAS DRAMA. Und richtig, am nächsten Morgen sitzt Zeyna, aus unerfindlichen Gründen mit dem Schicksals-Express von wo auch immer zurückgekehrt, am Tisch – und stellt klar, dass ihr Hanna nie wieder unter die Augen kommen darf.

Ich kann verstehen, warum Rasha Khayat das so gebaut hat, ich ahne, warum viele Lesende dadurch abgeholt wurden … aber für mich wirkte das alles wie eine Behauptung, ein Ausrufezeichen, für das es wenig Notwendigkeit gibt. „So what“, möchte ich sagen, und selbiges scheint sich auch Hanna zu denken (trotz „Meine Schuld, meine Scham.“), als sie zu Beginn des Romans Nabil schreibt und ohne ein Wort zu dem, was war, nach der Telefonnummer von Zeyna fragt. Die lässt sie im Schnellvorlauf, den die letzten Seiten des Buchs darstellen, auflaufen mit einer Nachricht, die man sich krawehl-krawehlig deklamiert auf jeder Theaterbühne vorstellen kann … es deutet sich aber trotzdem die Möglichkeit einer Versöhnung an, zumal Zeyna, die Impulsive, Überreagierende inzwischen Mutter ist …

Möglicherweise ist klar geworden: Ich war nicht der richtige Leser für ICH KOMME NICHT ZURÜCK, was schade ist, denn es gibt viele wunderbare Momente (die vor Glück strahlende Zeyna in ihrem rosafarbenen Turnanzug mit den silbernen Schläppchen, die von Cem gerettet werden muss, gehört sicher dazu). Aber reicht das für einen Roman, der nach der letzten Seite noch irgendetwas auslösen soll? Für mich leider nicht.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Rasha Khayat: ICH KOMME NICHT ZURÜCK. Dumont Verlag, 2024