Die New York Times findet diesen Roman „Furchtlos“, ich mag ihn auch, aber mit leichten Abzügen in der B-Note.
„Wie erklärt man diese Erfahrungen? Die Summe all dieser alltäglichen Erniedrigungen, ihr akkumuliertes Gewicht?“
Welche Erzählperspektive ist die meistverwendete, die Ich-Form oder die auktoriale, allwissende? Ich mag beide, habe aber einen Soft Spot für die Wir-Form, den Chor, der von Gemeinschaft und einem großen Ganzen zeugt, dadurch aber auch der Betrachtung von einzelnen Figuren eine intensivere Bedeutung geben kann. Zwei der Bücher, die ich besonders in mein Herz geschlossen habe, bedienen sich dieser Perspektive, WIE SCHÖN WIR WAREN von Imbolo Mbue und WOVON WIE TRÄUMTEN von Julie Otsuka. Und so konnte ich mich auch hineinfallen lassen in BROWN GIRLS von Daphne Palasi Andreades.
Sie leben in New York, genauer gesagt dem „miesen“ Teil von Queens, auch wenn ihre Eltern anderswo geboren wurden: in Pakistan, Guyana, Haiti, Côte d`Ivoire, Bangladesh, Philippinen, Jamaika, Mexiko, Pakistan, Ghana, Südkorea, Iran, Ägypten, Indien … Sie spielen auf der Straße und gehen zur Schule, sind hetero oder auch nicht, sie verlieben sich in Menschen unterschiedlicher Hautfarben, sie bleiben zuhause oder studieren weit entfernt, sie kehren zurück, manchmal gerne und manchmal nur, weil sie immer noch diesen Faden spüren, der sie mit ihrem alten Ich verbindet. Und am Ende? Sterben wir eh alle.
Aber so unterschiedlich die Brown Girls sein mögen (Khadija, Ximena, Breonna, Maribeth, Mei-Ying, Ellen, Yoon, Nadira und Michaela, um nur einige aufgereihte Namen zu zitieren), sie teilen viele Erfahrungen – von denen das heimliche Sehnen einiger, statt der weißen Haut ihrer Partner*innen doch lieber dunkle auf ihrer zu spüren, die Erfreulichste ist. Brown Girls werden sexuell belästigt. Brown Girls werden von den Familien ihrer weißen Freund*innen dafür gelobt, so fleißig zu sein, außer natürlich, sie schaffen es an Eliteuni, dann ist das doch sicher eine Quotenlösung? Brown Girls werden gebeten, sich bei Familienfotos ganz an den Rand zu stellen, damit ein nachträglicher Bildausschnitt wieder für die richtige Ordnung sorgen kann. Brown Girls, Brown Girls, Brown Girls: „Wie ein Rapsong“, schreibt der Guardian, „wie eine Hymne.“
Im englischen Original haben die 234 Seiten vermutlich einen anderen Flow als in der gelungenen Übersetzung von Cornelius Reiber, aber so oder so ist BROWN GIRLS ein Buch, das man mit Vergnügen lesen kann … was sich angesichts des bereits erwähnten Rassismus vermutlich sperrig anhört? Obwohl die Autorin nichts beschönigt, regte sich bei mir als Leser von geringem Verstand maximal ein Unwohlsein, keine Verzweiflung oder Wut: Zu elegant wird erzählt, wie die Brown Girls heranwachsen, und ein wütendes Aufbegehren ist selten: „Danke, dass ihr die Länder unserer Vorfahren kolonialisiert habt, Danke für die Kriege und Diktatoren! Wir sind so unendlich dankbar für eure zivilisierte Religion und die Visa! Danke, wirklich danke und nochmal danke.“
Natürlich bietet sich für ein Buch wie BROWN GIRLS der Chor als Erzählperspektive an, gleichzeitig habe ich ihn aber auch als Stolperstein empfunden – und man sehe mir bitte nach, wenn ich nun wie ein alter weißer Mann klinge: Durch das vielstimmige, homogene Raunen wird zwar unterstrichen, dass alle Protagonistinnen Amerikanerinnen sind (und als solche behandelt werden sollten), gleichzeitig aber das hohe Gut der kulturellen Bereicherung ausgeklammert, die Unterschiede, die es haben kann, wenn man mit Eltern aus unterschiedlichen Herkunftsländern aufwächst. Und obwohl erwähnt wird, dass „brown Boys“ nicht nur als Barkeeper arbeiten, sondern auch als Künstler oder an der Wall Street, schiebt sich für mich das Bild des „Problembruders“ nach vorne, der anders als das Brown Girl für Probleme sorgt, im Gefängnis landet oder einem Brown Girl mit seinem weißen Freund „Kokosnuss“ oder „Schlampe“ hinterher ruft … wobei dies zu einer der für mich schönsten Stellen des Buchs führt: „Aber manche dieser brown Boys rufen uns auch beim Namen, wenn wir vorbeigehen. Nicht bei unseren amerikanischen Namen, sondern den Namen, die wir in überfüllten Wohnzimmern haben, die unsere Großmutter benutzen, wenn sie uns wach rütteln. Sie rufen uns bei unseren Namen, unseren Namen wie kleinen Blüten, und wenn wir sie hören, müssen wir unsere gesamte Kraft aufbringen, einfach weiterzugehen.“
Alter weißer Mann #2: Ich habe kein Problem, wenn ich Romanen gegendert wird, aber meiner Meinung nach stolpert die von mir gelobte Übersetzung an den Stellen, wenn aus der Freundschaft die Freund*innenschaft wird – und warum auch die Mörder*innen alle inkludieren müssen, wenn der Text kaum Zweifel daran lässt, dass es hier um Männer geht, nun … Das ist natürlich ein Problem, dass es im amerikanischen Original nicht gibt. Es erschließt sich mir allerdings auch nicht, warum die einzige Figur, die nachvollziehbar mehrfach auftritt, Trish ist – und sie am Ende dann auch noch mal eine herausgehobene Bedeutung bekommt. Ist dies möglicherweise ebenso einem Creative Writing Ansatz geschuldet wie das Bild, dass der Tod „schmeckt wie von Kieseln am Grunde der Loire gereinigtes Wasser“?
BROWN GIRLS ist, trotz leichter Abzüge in der B-Note, ein gelungenes Buch für ein Wochenende und sicher auch eins, das durch die kurzen Kapitel und den unterschwelligen Sog aus einer Lesekrise hinausführen kann. Hat der Roman mich so begeistert wie Evaristos MÄDCHEN, FRAU, ETC.? Leider nein. Kann ich ihn trotzdem empfehlen: jawohl!
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Daphne Palasi Andreades: BROWN GIRLS. Aus dem Englischen von Cornelius Reiber. Luchterhand Verlag, 2024.
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