Elke Heidenreich hat mit diesem Essay einen Riesenbestseller gelandet – ich verstehe bei aller Liebe für die Autorin nicht, warum

„Ich muss nicht die liebe alte Oma werden, die niemandem zur Last fällt. Ich kann so spöttisch und kämpferisch bleiben, wie ich es mein Leben lang war – solange ich Kraft und Lust dazu habe. Unsere Gesellschaft ist offen genug, um mit keinen Verhaltenskodex mehr vorzuschreiben, wie er die Alten früherer Jahrzehnte, Jahrhunderte ins Abseits befördert hat. Ich nehme teil an dieser Welt, wie Cees Nooteboom es mit Recht forderte, solange ich in dieser Welt bin. Und ich muss nicht mehr jede neue Welle mitsurfen, das ist doch auch schön.“

Es sieht hübsch aus, es fängt großartig an mit der Gegenüberstellung zweier Lebensprinzipien – und ist trotzdem kein Buch, das ich ans Herz drücken möchte. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich den schmalen Band nicht gehört, sondern gelesen habe; vieles, was mir unangenehm aufstieß, klänge aus dem Mund der Autorin vielleicht anders?

ALTERN, Elke Heidenreichs oft sehr schlaues Essay über das nicht mehr frühlingsfrische Leben im Angesicht garantierter Endlichkeit, ist seiner Literaturgattung entsprechend ein Füllhorn schlauer Zitate; es überzeugt auch darüber hinaus, solange die Autorin nah an ihrer Biographie bleibt. Wenn Heidenreich beispielsweise über ihre wichtigsten Besitztümer erzählt, zu denen ein alter Topf, eine Zuckerdose – was würde ich dafür geben, die zu sehen! – und ein Metalldöschen gehören, dann ist das hoch emotional, weil man sich eng an ihrer Seite fühlt, und von allgemeingültigem Wert.

Genauso schön: Wenn sie den Koffer auf ihrem Dachboden erwähnt, der nach ihrem Tod verbrannt werden soll, dessen Inhalt sie aber so lange es geht in ihrer Nähe wissen möchte, um sich an das dunkelste Kapitel ihres Lebens zu erinnern, dann erzählt das ohne viele Worte einen ganzen Roman. In solchen Momenten zeigt sich die große Kunst einer Autorin, die – wenn sie will – mit Tonarten spielen kann und mit einer guten Portion Selbstironie im Schweren auch das Leichte findet.

Leider erliegt Elke Heidenreich oft der Versuchung, den Zeigefinger zu heben, und der Grat zwischen zugeneigt warnen und von oben herab tadeln ist bekanntlich schmal. Ich finde es charmant, dass sie kein Blatt vor den Mund nimmt, habe aber den Eindruck, dass ihre frühere Streitlust inzwischen zur Allgemeinwut tendiert. Es gibt einen Unterschied zwischen dem unbequemen Hinterfragen, was noch nicht (oder nicht mehr) ins eigene Weltbild passt, und einem abwertenden Kopfschütteln. Wenn sich dazu möglicherweise auch ein Ringen um die eigene Relevanz gesellt, hat dies vor allem eine Folge: Es lässt die Autorin älter wirken, als sie ist.

Die handwerkliche Frage, die ich mir stelle: Lässt Elke Heidenreich sich noch redigieren, oder versucht das Hanser-Lektorat es gar nicht erst? Der Text hätte deutlich profitiert, wären ihm diverse Leerzeilen spendiert worden, um Gedankengänge voneinander abzugrenzen sowie das manchmal seltsam sprunghaftes Ineinandergleiten von Themen zu verhindern. Und wo war eine sanft lenkende Hand, die bei Wiederholungen eingreifen und die Autorin davor bewahren hätte können, sich in den Fallstricken ihrer Argumentationen zu verheddern? So wettert sie gegen das Bild, die Seele baumeln zu lassen, schickt aber ein hübsches Tolstoi-Zitat hinterher, nach dem man seine Seele „wie edle Samenkörper“ hinter sich ins Erdreich werfen soll: Als Leser von geringem Verstand erklärt sich mir nicht, ob dies nun gesetzt wird, weil „sähen“ (und wegwerfen) so viel schöner ist als „baumeln“? Und wie passt dies damit zusammen, dass die Autorin sich später dafür lobt, manchmal gar nichts zu tun (wie sie in einer TV-Sendung hinreißend erklärte: „Dann liege ich auf dem Sofa und fresse Schnapspralinen“) – wird dabei weiterhin alles rigoros an Ort und Stelle fixiert, was doch im lauen Wind des Müßiggangs flattern möchte?

Essays müssen nicht dazu dienen, Faktenlagen allumfassend zu (er)klären, aber sie sollten auch nicht nur um den eigenen Bauchnabel kreisen. Das macht Heidenreich mit einiger Entschlossenheit, wenn sie gegen Work-Life-Balance wettert und den Anfang vom Ende gekommen sieht, sobald Menschen in den Ruhestand gehen (schlimmer noch: diesen herbeisehnen); erst viele Seiten später kommt die Erkenntnis, dass sich dies leicht sagen lässt, wenn man nie körperlich herausfordernd arbeiten musste (die Differenzierung, dass auch geistige Akkordleistung ermüdend ist, lassen wir einfach einmal außen vor). Heidenreich erwähnt zwar, dass sie sich zum Glück finanziell abgesichert weiß, weil ein Alter in Armut kein Spaß ist – kommt aber nicht auf die Idee, ihre Bühne für einen Appell an Politik und Wirtschaft zu nutzen, diesen Missstand in Angriff zu nehmen. (Und nein, ich bin nicht so sozialromantisch zu glauben, dass ein bei Hanser verlegtes Buch für eine weniger herausgeforderte Zielgruppe gesellschaftspolitischen Einfluss hat; aber ja, ich bin sicher, Heidenreich hätte hier ein Clickbait-taugliches Zitat liefern können, das eine wichtige Reichweite für das Thema bedeuten würde). Hier wäre mehr Sensibilität für die Lebensrealität anderer Menschen hilfreich gewesen; das hätte aber wohl vorausgesetzt, Depressionen nicht in den Verdacht zu stellen, eine Modeerscheinung für Laktose-intolerante Menschen zu sein, die sich auf ihren Lastenfahrrädern (die laut Heidenreich bitte bald „in der Hölle der entbehrlichen Entsetzlichkeiten“ verschwinden sollen) eigentlich nur einer Melancholie hingeben wollen …

Was WICHTIG ist im Zusammenhang mit dem Thema Altern, das lässt Elke Heidenreich in den bereits erwähnten Zitaten andere sagen; was RICHTIG ist, das bestimmt sie, bitte schön, selbst. Und so ist es für eine Frau „im Alter“ eine gute Idee, einen jüngeren Mann zu haben – schließlich hat Elke auch einen! –, aber Minirock mit 80, das geht nicht. Entsprechend darf auch ein Seitenhieb gegen Madonna und ihre Schönheits-OPs nicht fehlen, was kurios ist, da es die Autorin an anderer Stelle schaudert, wenn sich ihr Lesungsgäste mit runzligen Gesichtern als gleichaltrig vorstellen.

Immerhin: Übers Gendern eschauffiert sich Heidenreich erst relativ am Ende der 111 Seiten, nachdem sie mit Obama abgerechnet hat und – haha – darauf hinweist, dass man nicht nur über alte weiße Männer schimpfen muss, denn alte schwarze Männer seien auch nicht besser … (Möglicherweise freuen sich derdiedas Söder*innen über solche vermeintlichen Spitzen?)

Wer Elke Heidenreich im Herzen trägt (und, jawohl, das tue ich!), der wird dieses Buch mögen, auch wenn es mir an vielen Stellen leider schwerfällt. Aber: Wer bin ich schon? ALTERN wird gefeiert und steht ganz oben auf der Bestsellerliste. Ich gönne der Autorin diesen Erfolg, verweise aber einmal mehr auf das großartige – kauft es alle, es lohnt sehr! – HIER GEHT’S LANG. Darin geht es um Bücher, ums Lesen, ums Leben … und auch ums älter werden, ohne dabei alt zu wirken.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Elke Heidenreich: ALTERN. Carl Hanser Verlag, 2024