Julie Otsuka begeistert mit ihrer besonderen Erzählform und einer hochemotionalen Geschichte

„Plötzlich streckt sie ihre Hand aus und greift nach deinem Arm. Ihr Griff ist kräftig, aber sanft. Ihre Hand ist unerwartet warm. Deine Mutter, wird dir klar, hält dich. Und zum ersten Mal seit Wochen bist du ganz ruhig.“

Es scheint nur ein kleiner, feiner Riss am Boden eines Schwimmbeckens zu sein, der – so wie die Vergesslichkeit, die Alice immer wieder heimsucht – harmlos bleiben könnte. Aber beides läutet das Ende von etwas ein, was so alltäglich selbstverständlich wie wertvoll ist.

Die preisgekrönte amerikanische Autorin Julie Otsuka erzählt (vermutlich autofiktional) vom langsamen, aber unausweichlichen Versinken ihrer Mutter in der Demenz – und das auf stilistisch besondere Art: SOLANGE WIR SCHWIMMEN ist eine hypnotische Komposition aus Bestandsaufnahmen, die an einen griechischen Chor erinnern; aus Fragen, mal fordernd und mal hilflos; aus den Aussagen einer möglicherweise allwissenden Erzählstimme, die eine göttliche Instanz sein könnte, milde und grausam zugleich, wäre nicht klar, dass es sich um die Leitung eines Pflegeheims handelt. Es ist leicht, sich von diesen steten Aufzählungen – soweit ich das beurteilen kann hervorragend, weil fließend übersetzt von Katja Scholtz – mitreißen und dabei in einen sprachlich schönen Kokon einlullen zu lassen … würde sich nicht hinter fast jeden Satz ein Fausthieb verbergen.

„Literatur“ ist allen Erklärbär*innen zum Trotz kein eindeutiger Begriff, alle Lesenden haben ihre ganz eigene Definition. Eine, die für mich entscheidend ist neben dem Öffnen von Türen, von deren Existenz ich vorher gar nichts ahnte, lautet: „Literatur macht das Schwere leicht.“ Nun: Otsuka macht das Schwere … schwer. Alices Schicksal lastet von Kapitel zu Kapitel mehr auf uns, konfrontiert uns mit der ausweglosen Lage ihrer Figuren und mit den Ängsten vor unserer eigenen Zukunft. Und doch liegt es nicht nur an dem ebenso flirrenden wie flehenden Funken Hoffnung, den die Autorin ihrem atemlosen Publikum hin und wieder zugesteht, dass diese gerade einmal 152 Seiten uns nicht wackersteinschwer zu Boden zwingen; SOLANGE WIR SCHWIMMEN besitzt eine schwebende Eleganz, so wie sich die allermeisten menschlichen Körper im Wasser von so vielen Hindernissen der Welt freimachen können.

Das britische Nachrichtenmagazin Spectator lobt die „scharfsinnigen Charakterzeichnungen“, WDR 2 die „Zauberei“, die man im Umgang der Autorin mit Sprache empfinden kann, und ein einzelner Leser von geringem Verstand möchte noch hinzufügen, dass mich das zweite Kapitel gerade auch deswegen so begeistert hat, weil Otsuka hier nicht nur Anlauf nimmt für ihr eigentliches Thema, sondern auch eine Gesellschaft im zunehmenden Ausnahmezustand seziert, in dem Spekulationen, Durchhaltewillen, Abgeklärtheit und der unterschiedliche Umgang mit Zukunftssorgen durcheinanderwirbeln.

Harter Tobak, großes Kino – vielleicht nichts für Zartbesaitete … oder eben gerade doch. APPLAUS!

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Julie Otsuka: SOLANGE WIR SCHWIMMEN. Aus dem Englischen von Katja Scholz. mare Verlag, 2023