Ist der zweite Roman der Autorin vielleicht sogar noch besser?
„Er wusste, dass sie unglücklich war. Schon lange. Und er hatte keinen Weg gefunden, daran etwas zu ändern. Es hatte es einfach nicht angerührt, dieses Unglück, weil es ihm zu groß und zu unberechenbar erschien, wie ein übermächtiger Gegner, den man besser nicht provozierte. Also war er darum herumgeschlichen und hatte versucht, es zu besänftigen.“
Viele von uns kennen diese unhörbare Geräusch, wenn etwas in uns zerbricht, wenn feine, scharfe Scherben liegen bleiben und wir wissen, dass es lange dauern wird, um ihre Ränder glatt zu schleifen; selbst wenn sie irgendwann sandfein gemahlen worden sind durch die Zeit und das Vergessen und anderes, kann es immer noch vorkommen, dass sie knirschen, wenn wir unvorsichtig einen Fuß auf sie setzen. In anderen Worten: Nichts kann uns so verletzten wie das, was die Menschen, wie wir lieben (oder lieben wollen, oder müssen, oder könnten) sagen oder tun – außer dem, was diese Menschen nicht sagen und nicht tun.
Alena Schröder hat mit JUNGE FRAU, AM FENSTER STEHEND, ABENDLICHT, BLAUES KLEID einen der Überraschungserfolge des Jahres 2021 geschrieben – vom Publikum geliebt, von der Kritik gefeiert, ewig auf der Bestsellerliste und in diesem Superlativfeuerwerk vermutlich das Schlimmste, was einer Autorin passieren kann … denn wie soll man an ein solches Buch anschließen? Schröder, an der Wand lehnend, Studiobeleuchtung, vieldeutbares Lächeln (um hier versuchsweise das Autorinnenfoto in ihre ehemalige Titeldiktion zu bringen), hat sich gegen eine klassische Fortsetzung entschieden, obwohl sie zu ihren bereits bekannten Figuren zurückgekehrt und streng genommen ein (Mid-)Prequel geschrieben hat: BEI EUCH IST ES IMMER SO UNHEIMLICH STILL wirkt dadurch vertraut … und ist doch etwas ganz anderes.
JUNGE FRAU bediente sich der Struktur eines klassischen Familiengeheimnisromans, in deren brillanter Umsetzung man ein Ringen mit der Mutterrolle entdecken konnte, wenn man wollte (und ich Leser von geringem Verstand muss sagen: Ich hab’s erst im Nachhinein begriffen); UNHEIMLICH STILL ähnelt trotz ähnlich wechselnder Handlungsorte und -zeiten mehr einem Kammerspiel, in dem alle Figuren einander umkreisen und in den meisten Fällen zurückstoßen – eine Chronik des Ungesagten und Ungehörten, die aus zwei Gründen tief in Herz und Hirn dringt: Zum einen, weil die meisten von uns schon da, wo Dialog sein sollte, diese besondere Spielart der Sprachlosigkeit erlebt haben, zum anderen, weil Schröders Konstruktion meisterhaft ist; die Figuren mögen stets auf schwankendem Boden stehen, aber die Statik der Geschichte ist hervorragend. Hier ist nichts übertrieben oder nur für den Effekt geschrieben (na gut, zwei Punkte vielleicht schon, aber was schert mich die Faktenanalyse, wenn in mir drin alles Schalmeienklang ist?). Schröder verrät ihre Figuren nicht, sie schält ihnen zwar Zwiebelschale um Zwiebelschale ab, lässt ihnen aber auch Geheimnisse … und bei aller Offenheit auch eine diskrete Intimsphäre. Vermutlich ist es auch das, was UNHEIMLICH STILL seine besondere Schönheit verleiht und in weite Ferne rückt von etwas, was ich in Ermangelung konkreterer Feuilleton-Begrifflichkeiten „selbstverliebte Gehänge-Schreibe“ nennen würde.
Und worum geht es überhaupt? Nach vielen Jahren kehrt Silvia in ihren Heimatort zurück, verlässt das chaotisch-entspannte Berliner WG-Leben und macht sich erneut für all das angreifbar, was sie hinter sich gelassen glaubte: die Enge der süddeutschen Provinz und das stete „Was sollen die Nachbarn sagen“, das nichts anderes ist als ein „Warum enttäuschst du mich so?“. Die offenen Arme, mit denen ihre gestrenge Mutter Evelyn sie begrüßt, verbergen sich sorgsam hinter Schnittchen mit Aufschnitt und missbilligenden Kommentaren, und die einzige Herzlichkeit, die es zwischen den beiden Frauen zu geben scheint, ist die für Hannah, Silvias uneheliches Baby. Aber ist das so? Ist der Moment, in dem zum ersten Mal der Fernseher eingeschaltet wird, um die Stille zwischen den beiden durch die Titelmelodie der „Lindenstraße“ zu füllen, vielleicht auch der Moment, an dem die erste Kruste von einer Wunde abblättert, die darauf wartet, abzuheilen? Und wie viele Geheimnisse werden dafür gelüftet werden müssen?
Es sind viele Themen, die Schröder auf den gerade mal 318 Seiten anspricht: Die erdrückende Gewalt von dem, was „öffentliche Meinung“ genannt wird und im Mikrokosmos einer Kleinstadt hervorragend wuchert; der Wunsch nach Selbstverwirklichung, der auch – aber tragischerweise nicht nur – an anderen scheitert; und immer ist da dieses lähmende Gefühl von Resignation, der mal mit einem doppelten Klosterfrau Melissengeist und mal mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft begegnet wird. Es werden falsche Wege beschritten und in Autos Gas gegeben, es wird Vertrauen verschenkt und Misstrauen kultiviert, es werden Briefe, die man besser nie geschrieben hätte, aufbewahrt und andere erst gar nicht geöffnet. Es gibt so viel unerfüllte Liebe in diesem Roman, dass es für eine handelsübliche Telenovela reichen würde … und doch empfinde ich BEI EUCH IST ES IMMER SO UNHEIMLICH STILL als Literatur im allerbesten Sinn: Augen öffnend, von sprachlicher Eleganz und erzählerischer Fünf-Sterne-Vielfalt, dabei barrierefrei und mit leisem Humor verfeinert, der ohne Witz auskommt (aber an der genau richtigen Stelle ein Stu-Stu-Studio-Line platziert). Und erwähnte ich schon die gewisse Gnadenlosigkeit der Autorin, wenn sie eine ganze Welt in einem Satz zusammenbrechen lässt?
Vielleicht muss man sich hüten vor dem vieldeutigen Lächeln auf Alena Schröders Autorinnenfoto: Diese Frau, da bin ich sicher, wird uns weiterhin mit ihren Büchern die Herzen aus dem Leib reißen … und uns, nachdem sie freundlich ein Pflaster gereicht hat, begeistert, aufgeregt, zutiefst befriedigt und doch hungrig nach mehr das nächste Buch herbeisehnen lässt.
***
Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Alena Schröder: BEI EUCH IST ES IMMER SO UNHEIMLICH STILL. dtv Verlag, 2023
Schreibe einen Kommentar