Dieses Buch hat mir oft Wes-Anderson-Vibes gegeben. Aber auch anderes.

„Nun kann ich mir schon vorstellen, dass viele meiner Leserinnen und Leser bei dieser letzten Passage ungläubig lachen mussten. So ein Zufall ist ja wohl schwerlich möglich, denken Sie – hier will Sie der Autor dieses Buches offenbar auf den Arm nehmen. – Tatsächlich konnte ich das Ganze selbst nicht glauben, als ich es hörte.“

Wir alle kennen das kleine gallische Dorf, das sich tapfer den römischen Usurpatoren widersetzt – aber was wäre, wenn man für so eine Geschichte nicht in die Antike reisen müsste, sondern auch im Polen der Gegenwart fündig würde? Dort liegt, inmitten eines nahezu undurchdringlichen Waldes, ein Schtetl, das durch irrwitzige Zufälle von der ganzen Welt vergessen wurde und so die Schrecken des Naziterrors unentdeckt überstanden hat. Doch mit Ruhe, Frieden und möglicherweise gar der Einhaltung des Schabbes ist es in Kreskol nun vorbei. Und warum? Natürlich ist eine Frau daran schuld! Und ein liebenswerter Simpel, vor dem eine Heldenreise der besonderen Art liegt …

Aber der Reihe nach: Zuerst ist da die schöne, aber nach althergebrachter Schtetl-Lebensweise wenig pflegeleichte Pescha Lindauer, die kurz nach der Eheschließung schon wieder geschieden werden will – und danach spurlos verschwindet. Steckt ihr Ex-Mann dahinter? Die Rabbis glauben, dass ausnahmsweise die polnischen Behörden informiert werden müssen, von denen man das letzte Mal vor langer (LANGER!) Zeit gehört hat. Also wird Jankel Lewinkopf, der uneheliche (pfui!) Sohn einer unangepassten (pfui-pfui!) Frau, mit der heiklen Aufgabe betraut, die Weiten des Waldes zu durchqueren. Sollte er dabei von einem Bären gefressen werde … nun, ein bisschen Schwund ist immer.

Jankel landet stattdessen in den Fängen eines anderen Raubtiers: der modernen Zivilisation im Polen von heute. Und nachdem man den vermeintlich Irren, der nur Jiddisch spricht und fließend warmes Wasser für ein Wunder hält, erst einmal in einer Klinik festgehalten hat, schenkt man seiner Geschichte schließlich Glauben. Mit der daraus resultierenden Landung eines Hubschraubers auf dem Marktplatz wird Kreskol ins 21. Jahrhundert katapultiert und in allerlei Schlamassel, von denen Touristen sowie die dräuende Währungsreform noch die kleinsten Übel sind … Jankel indes plagen andere Sorgen, und zwar Liebeskummer, denn er hat sein Herz verloren – ausgerechnet an jene Pescha, die doch verschwunden sein soll (und es vielleicht besser geblieben wäre).

Der US-amerikanische Autor Max Gross erzählt in DAS VERGESSENE SCHTETL auf 394 eng- und kleinbedruckten Seiten eine rasante Geschichte, die sich jeder Genreeinordnung widersetzt – denn dieser oftmals brutal schlaue politische Schwank ist auch eine gesellschaftskritische Satire, möglicherweise gar ein Schelmenroman, in dessen Mittelpunkt neben einer Coming-of-Age-Odyssee noch dazu eine tragische Liebesgeschichte steht. Es ist großes Kino, wie Gross hier mit zunächst augenzwinkerndem, zunehmend rabenschwarzem Humor von einer modernen Kolonialisierung erzählt, von der Unausrottbarkeit des Antisemitismus, von den Fallstricken einer konservativen Lebensweise und des Kapitalismus. Die dramaturgische Schraube wird weiter und weiter gedreht … und wenn man denkt, jetzt geht nichts mehr, wartet schon die nächste Wendung.

Wäre DAS VERGESSENE SCHTETL ein Film, man könnte ihn sich über lange Strecke in den brachial-lakonischen Bild- und Farbwelten eines Wes Anderson vorstellen; leider aber nicht über die gesamte. Und das führt mich vom begeisterten Lob, das der Roman sicher verdient hat, zu kritischen Anmerkungen.

Die Geschichte, von einem namenlosen Erzähler mit einer wirklich hinreißenden, semi-antiquierten Grundhaltung berichtet, wechselt zwischen Dorf und Stadt, zwischen auktorialer Weitsicht und plaudernder Eindimensionalität. Nun bin ich kein Fan davon, wenn die Erzählperspektive einer eierlegenden Wollmilchsau gleicht, aber gegen meinen Willen hat mich die Leichtfüßigkeit des beständigen Hierhin und Dorthin und hither and thither doch um den Finger gewickelt.

Die Handlung ist trotz ernsthafter Hintergründe (und manchmal gerade deswegen) so überzogen, dass man die Ungenauigkeiten im World Building und im Culture Clashing verzeiht; es geht schließlich darum, von Höhepunkt zu Höhepunkt zu eilen, da muss man nicht bei Feinheiten verweilen. Umso mehr überrascht es aber, wenn die anfängliche Fiddler-on-the-Roof-Schmissigkeit, zu der auch Jankels komplexe Lebensgeschichte beiträgt (und die es natürlich braucht, weil er uns Lesenden dadurch sofort ans Herz wächst), von der detaillierten Schilderung einer Gaskammerreinigung unterbrochen wird. Überhaupt, die realen geschichtlichen Hintergründe, sie platzen immer wieder brutal in die zu Beginn fast märchenhafte Geschichte; das ist historisch angemessen, aber passt es in den Kontext?

Positiv kann man sagen, dass das Helle und das Dunkle, das (Gesellschafts-)Politische, das Erschütternde und das Turbulente bei Gross nah beieinander liegen … was im Umkehrschluss aber auch bedeutet, dass ich mir an einigen Stellen eine strengere Redaktion gewünscht hätte, um das Buch eindeutiger zu positionieren. Andererseits ist es die vermutlich bewusste Entscheidung gegen Stromlinienförmigkeit, die DAS VERLORENE SCHTETL zu einem besonderen Buch macht. „Oy vey“, es ist kompliziert!

Schon für die ersten 50 Seiten (und viele nachfolgende Kapitel) lohnt das Lesen dieses von Daniel Beskos fließend ins Deutsche übertragenen Romans – doch nach dem großartigen Einstieg gibt es auch Längen, die mich gelangweilt haben, und dramaturgische Einbahnstraßen; wie gerne hätte ich beispielsweise mehr über die beiden mutmaßlichen Lesbierinnen in der Gasse zur Bettlersynagoge erfahren! Und das Ende (das ich hier natürlich nicht verraten werde)? Nun, es kommt überraschend. Und gleichzeitig unterstreicht es, dass Max Gross sich beim Erzählen dieser wilden Geschichte nicht festlegen will … und sich neben mit breitem Pinselstrich aufgetragenen Leuchtfarben auch auf feine Nuancen versteht.

Am Ende von YENTL (Jüngeren unter uns sei verraten: ein Musicalfilm) steht Barbra Streisand an Bord eines Schiffes und schmettert ihr herzzerreißendes „Papa, can you hear me?“; Gross endet leiser, lässt unsere Gemüter aber gleichermaßen abheben.

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Ich habe vom Verlag beziehungsweise von Kirchner Kommunikation als Rezensionsexemplar (und Teil einer „Blogger Box“) bekommen; es handelt sich bei dieser Rezension trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Max Gross: DAS VERGESSENE SCHTETL. Aus dem Englischen von Daniel Beskos. Katapult Verlag, 2024