Wenn ich groß bin, will ich Necati Öziri heiraten!

„Das war der Trick beim Lügen: Man musste über die erfundene Geschichte eine andere legen, von der man wusste, dass sie stimmte, und dann konnte niemand mehr, manchmal auch nicht mal selbst, noch unterscheiden, was Wahrheit und was Lüge war.“

Die Chancen stehen nicht gut: Im Würgegriff einer Autoimmunkrankheit kämpft Ardas Körper unbarmherzig gegen sich selbst, so wie auch die beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben miteinander ringen – Ümran, seine Mutter, mehr als einmal gestrauchelt im Leben, und Aylin, seine Schwester, die ihre Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben scheint und doch nicht von ihr loskommt.

Wer in dieser unheilvollen Familienaufstellung noch fehlt ist Metin, Ardas Vater, der die Familie verlassen hat, bevor sein Sohn geboren wurde. Ihn, die große Leerstelle seines Lebens, spricht Arda in einem bühnenreifen Monolog an, um Zeugnis abzulegen von dem, was geschehen ist, um das alles zu verstehen … und in einer Situation, in der ihm jede Kontrolle versagt ist, die zitternden Hände ans Steuer zu legen.

VATERMAL von Necati Öziri wird zurecht allüberall gefeiert und steht aktuell auf der Longlist des Deutschen Buchpreises – ich hoffe, er wird in wenigen Tage den Sprung auf die Shortlist schaffen, verhandelt der Roman auf 291 Seiten doch erzählerisch dicht und trotzdem barrierefrei hochaktuelle sowie zeitlose Themen von allgemeingültigem Wert. Obwohl der Text mit einem Stocken beginnt – der Frage, wie der Protagonist seinen Vater denn nun nennen soll –, taucht man von den ersten Zeilen an tief in die Handlung ein und hat weder die Möglichkeit noch das Verlangen, sich dem steten Anschwellen und Abebben dieser unaufgeregten Schicksalssyphonie zu entziehen.

Wer Bücher aneinander misst, legt sich selbst Scheuklappen an, aber als Leser von geringem Verstand konnte ich VATERLAND kaum lesen, ohne das Echo einer anderen Geschichte im Kopf zu haben und mich an einen meiner Lieblinge des letzten Jahres erinnert zu fühlen: DSCHINNS von Fatma Aydemir. Die Romane ergänzen und spiegeln sich, was die Stärken des einen sind, könnten die Schwächen des anderen sein, und umgekehrt; letztendlich begeistert mich aber beides auf eigene Art.

Aydemir ist meiner Meinung nach der Versuchung erlegen, alles – aber auch wirklich ALLES –, in ihr Buch packen zu wollen, was irgendwie möglich schien, und dies auszuerzählen; Öziri versteht (oder: beruft) sich auf die Kunst der Auslassung, lässt Arda als Erzählenden dabei aber vielleicht doch zu weit in den Hintergrund treten: Ich hätte doch gerne besser verstanden, warum er Literatur studieren will, und wäre ihm über seine Chronistenrolle hinaus näher gekommen, wenn sich seine Sexualität nicht nur auf die flüchtige vorpubertäre Faszination für Sexhotline-Frauen beschränken würde.

Gleichzeitig ist dieses Vage auch die Stärke des Romans, in dem wir drei Figuren begegnen, die man – ob nun beabsichtigt oder nicht – als unreliable narrators sehen darf: Während Arda selbst einräumt, dass er versucht ist, Erinnerungen eine versöhnlichere Note zu geben, bleibt offen, inwieweit wir den Wahrheiten von Ümran und Aylin glauben dürfen (aber ist das, wie wir unser Leben empfinden, jemals objektiv?). Beeindruckt haben diese Frauen mich auf jeden Fall beide, in ihren dunklen Momenten und in ihren leuchtenden, ebenso wie Öziris Dramaturgie und seine Kunst, aus Druckerschwärze-Miniaturen auf Papier ganze Erzählräume wachsen zu lassen.

Es wird gelitten in VATERMAL und gestorben, es werden Pommes gegessen, eine Katastrophe überlebt, eine zweite Chance nicht genutzt und im Dreck geknutscht. Die Szene, in der Arda in einem Traum die nicht nur räumliche Distanz zwischen Deutschland und der Türkei überwindet, ist großes Kino, und fast wäre ich enttäuscht gewesen, dass der Autor diesen Flirt mit einem bodenständigen magischen Realismus nur so kurz ausprobiert hat … aber er entschädigt mit vielen anderen großartigen Momenten.

Das vom Vater geerbte Muttermal möchte der Erzähler wegwischen – wir alle sollten hoffen, dass Necati Öziri uns noch für viele Werke erhalten bleibt.

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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.

Necati Öziri: VATERMAL. Claassen, 2023.