Ein kurzes, böses, schlaues Lesevergnügen in opulenter Ausstattung
„Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten nicht einfach so von einem Schiff mitten in den Ozean. So etwas machte man schlichtweg nicht, das war alles. Es war eine blöde, kindliche, ungezogene Tat, und wenn Standish jemand hätte um Verzeihung bitten können, dann hätte er es getan. […] Weit entfernt davon, blasiert zu sein oder einen Kult mit Umgangsformen zu treiben, war Standish wahrhaft ein Gentleman von der guten, unaufdringlichen Sorte. Von einem Schiff zu fallen, bereitete den Leuten eine Menge Ärger. […] Es war sogar peinlicher als die Fügung jenes unglückseligen Mädchens mit dem gewissen Etwas in New York, das am Abend seines ersten großen Auftritts strauchelte und einen ganzen Treppenlauf hinunterfiel. […] Wenn man sah, wie anderen Menschen diese erbärmlichen Eseleien unterliefen, konnte man ihnen im tiefsten Herzen nicht verzeihen. Man empfand kein Mitleid für ihre Unannehmlichkeit.“
Irgendwo zwischen Hawaii und Panama sorgt in den Morgenstunden ein nachlässig übersehener Fettfleck an Bord des Frachtdampfers S.S. Arabella für die ebenso unerwartete wie endgültige Kursänderung im Leben eines vermögenden New Yorkers: Henry Preston Standish, der Karriere und Familie für eine dringend benötigte Auszeit zwecks Selbstfindung hinter sich gelassen hat, stürzt kopfüber ins Wasser … und ohne dass dies ein echter Spoiler ist (dem in diesen Gedanken zum Buch aber andere folgen werden), kann verraten werden, dass er dies nicht überleben wird. Dabei sieht doch zunächst alles rosig aus: Die See ist ruhig, mit Haien ist nicht zu rechnen, und weil der Gentleman doch eng eingewoben ist in den Tagesablauf der anderen Menschen an Bord, wir man sein Verschwinden sicher alsbald bemerken und ihn aus der misslichen, vor allem aber peinlichen Lage befreien. Oder?
GENTLEMAN ÜBER BORD von Herbert Clyde Lewis, erstmals 1937 in Amerika erschienen und nun in einer hübschen deutschen Schuberausgabe erhältlich, ist ein Vergnügen – jedenfalls dann, wenn man dieses ob der Garstigkeit des Lebens empfinden kann. Obwohl Lewis über eine Reise schreibt, hat er eine 153 Seiten umfassende Geschichte des Stillstands verfasst, eine zynische Gesellschaftskomödie, bei der man oft schmunzelt, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gibt.
Das liegt natürlich an Standish selbst, für den es undenkbar scheint, dass ausgerechnet ihm – der trotz bzw. nach einem gewissen inneren Tumult gefestigt im Leben steht – so eine Peinlichkeit unterlaufen könnte. Also tut er lange Zeit das, was er von einem Mann in seiner Position erwartet: Die Ruhe bewahren, ganz sicher nicht lauthals um Hilfe rufen und dort verharren, wo er sich befindet … während das Schiff sich weiter und weiter entfernt. Es ist dieses (heute würde man sagen: cis-white-male-ig privilegierte) Vertrauen auf den geregelten Lauf der Dinge, das sein Schicksal besiegelt, und während wir ihn schütteln möchten, können wir doch mit einiger Verblüffung nicht verhehlen, dass sich kein Mitleid einstellen will.
Was sich stattdessen regt ist eine leise Wut auf Standishs Mitreisende, die vielerlei Gründe haben, sein Verschwinden nicht zu bemerken – die Verkettung unglückseliger Umstände, eine zutiefst bedauernswerte Angst vor dem Sozialgefälle, aber auch tumbes Desinteresse und eine gewisse Boshaftigkeit. Das Letzteres auf das Konto des mitreisenden christlichen Missionars geht, ist nur einer der vielen Seitenhiebe auf die Gesellschaft der damaligen Zeit, mit der Herbert Clyde Lewis seinen dichten, eleganten (und geschmeidig von Klaus Bonn ins Deutsche übersetzten) Text zu mehr macht als einem kurzweiligen Lesevergnügen. Wie belastbar ist das soziale Netz, in dem wir uns bewegen, wie eilfertig werden allzu einfache Erklärungsversuche bemüht, und wie schnell werden Opfer in die Rolle der Täter gedrängt? Herbert Clyde Lewis, der nach einem rastlosen Leben mit gerade einmal 41 Jahren mittelos starb, stellte sich all diese Fragen, als er vom Dach seines Wohnhauses in Greenwich Village auf die Straße hinuntersah … und wer von uns hat selbst noch nie mit diesem düsteren „Was wäre, wenn?“ gespielt?
GENTLEMAN ÜBER BORD ist die Bestandsaufnahme einer Epoche und eines Kulturkreises – und gleichzeitig zeitlos und universell. „Das ist das Beste, was ich seit Jahren gelesen habe“, wird Elke Heidenreich auf dem Schuber zitiert (Note to myself: Irgendwann mal checken, wie beständig manche KritikerInnen auf diese Weise superlativieren …). Ob ich das unterschreiben kann, vermag ich Leser von geringem Verstand nicht zu sagen. Aber meine Gedanken kehren mit erstaunlicher Regelmäßigkeit zu diesem Buch zurück.
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Ich habe dieses Buch selbst gekauft; es handelt sich bei dieser Rezension also nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung, sondern sie gibt lediglich meine Meinung wieder.
Herbert Clyde Lewis: GENTLEMAN ÜBER BORD. Aus dem Englischen von Klaus Bonn; mit einem Nachwort von Jochen Schimmang. mare Verlag, 2023
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